Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 3. Leipzig, 1837.123. Der Wandrer im Gebirg verlor die rechten Steige, Und blickt umsonst umher, wer ihm dieselben zeige. Doch ein Einsiedler sitzt vertieft dort in Gebeten, Und fragend nach dem Weg, kommt er zu ihm getreten. Da hebt der fromme Mann, und spricht dazu kein Wort, Den Finger himmelan, und betet schweigend fort. Es spricht der Wandersmann: Ich weiß, daß durch Gebet Und Weltentsagung dort der Weg zum Himmel geht. Doch jetzo möcht' ich den zum nächsten Dorfe wissen; Wenn du die Kunde hast, so laß mich sie nicht missen. Da wiegt der fromme Mann, und spricht dazu kein Wort, Das Haupt verneinend ernst. Der Wanderer geht fort, Und denkt: Was könnt' es wol dem frommen Manne schaden, Wenn er bewandert wär' auch in der Erde Pfaden? Am Himmel würd' es dort ihm keinen Eintrag thun, Zeigt' er den Weg mir hier; den zeige Gott mir nun! Rückert, Lehrgedicht III. 10
123. Der Wandrer im Gebirg verlor die rechten Steige, Und blickt umſonſt umher, wer ihm dieſelben zeige. Doch ein Einſiedler ſitzt vertieft dort in Gebeten, Und fragend nach dem Weg, kommt er zu ihm getreten. Da hebt der fromme Mann, und ſpricht dazu kein Wort, Den Finger himmelan, und betet ſchweigend fort. Es ſpricht der Wandersmann: Ich weiß, daß durch Gebet Und Weltentſagung dort der Weg zum Himmel geht. Doch jetzo moͤcht' ich den zum naͤchſten Dorfe wiſſen; Wenn du die Kunde haſt, ſo laß mich ſie nicht miſſen. Da wiegt der fromme Mann, und ſpricht dazu kein Wort, Das Haupt verneinend ernſt. Der Wanderer geht fort, Und denkt: Was koͤnnt' es wol dem frommen Manne ſchaden, Wenn er bewandert waͤr' auch in der Erde Pfaden? Am Himmel wuͤrd' es dort ihm keinen Eintrag thun, Zeigt' er den Weg mir hier; den zeige Gott mir nun! Rückert, Lehrgedicht III. 10
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123.
Der Wandrer im Gebirg verlor die rechten Steige,
Und blickt umſonſt umher, wer ihm dieſelben zeige.
Doch ein Einſiedler ſitzt vertieft dort in Gebeten,
Und fragend nach dem Weg, kommt er zu ihm getreten.
Da hebt der fromme Mann, und ſpricht dazu kein Wort,
Den Finger himmelan, und betet ſchweigend fort.
Es ſpricht der Wandersmann: Ich weiß, daß durch Gebet
Und Weltentſagung dort der Weg zum Himmel geht.
Doch jetzo moͤcht' ich den zum naͤchſten Dorfe wiſſen;
Wenn du die Kunde haſt, ſo laß mich ſie nicht miſſen.
Da wiegt der fromme Mann, und ſpricht dazu kein Wort,
Das Haupt verneinend ernſt. Der Wanderer geht fort,
Und denkt: Was koͤnnt' es wol dem frommen Manne ſchaden,
Wenn er bewandert waͤr' auch in der Erde Pfaden?
Am Himmel wuͤrd' es dort ihm keinen Eintrag thun,
Zeigt' er den Weg mir hier; den zeige Gott mir nun!
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Zitationshilfe: | Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 3. Leipzig, 1837, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane03_1837/227>, abgerufen am 16.02.2025. |