Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 4. Leipzig, 1838.128. Ich denke, daß auch dich zu Zeiten noch verwirret, Was in der Jugend mich so manichfach geirret; Wenn den Aussprüchen ich der Weisen aller Zeiten Gieng gläubig nach und mich von ihnen gern ließ leiten; Da stellt' ich jeden mir als einen Leitstern vor, Und jede Perle nahm ich freudig in mein Ohr. Wenn meine Sprüche nun, die goldnen, ich verglich, Mit Staunen nahm ich wahr: sie widersprachen sich. Und weil ich konnte nun nicht alle mehr zusammen Annehmen, hatt' ich Lust sie alle zu verdammen. Denn welchen hätt' ich Recht dem andern vorzuziehn, Da mir an seinem Platz jeder der rechte schien? Bis mir die Einsicht kam, daß alle Weisheit bringt Bedingte Wahrheit nur, nicht Wahrheit unbedingt; 128. Ich denke, daß auch dich zu Zeiten noch verwirret, Was in der Jugend mich ſo manichfach geirret; Wenn den Ausſpruͤchen ich der Weiſen aller Zeiten Gieng glaͤubig nach und mich von ihnen gern ließ leiten; Da ſtellt' ich jeden mir als einen Leitſtern vor, Und jede Perle nahm ich freudig in mein Ohr. Wenn meine Spruͤche nun, die goldnen, ich verglich, Mit Staunen nahm ich wahr: ſie widerſprachen ſich. Und weil ich konnte nun nicht alle mehr zuſammen Annehmen, hatt' ich Luſt ſie alle zu verdammen. Denn welchen haͤtt' ich Recht dem andern vorzuziehn, Da mir an ſeinem Platz jeder der rechte ſchien? Bis mir die Einſicht kam, daß alle Weisheit bringt Bedingte Wahrheit nur, nicht Wahrheit unbedingt; <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0100" n="90"/> <div n="2"> <head>128.</head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Ich denke, daß auch dich zu Zeiten noch verwirret,</l><lb/> <l>Was in der Jugend mich ſo manichfach geirret;</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Wenn den Ausſpruͤchen ich der Weiſen aller Zeiten</l><lb/> <l>Gieng glaͤubig nach und mich von ihnen gern ließ leiten;</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Da ſtellt' ich jeden mir als einen Leitſtern vor,</l><lb/> <l>Und jede Perle nahm ich freudig in mein Ohr.</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Wenn meine Spruͤche nun, die goldnen, ich verglich,</l><lb/> <l>Mit Staunen nahm ich wahr: ſie widerſprachen ſich.</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Und weil ich konnte nun nicht alle mehr zuſammen</l><lb/> <l>Annehmen, hatt' ich Luſt ſie alle zu verdammen.</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>Denn welchen haͤtt' ich Recht dem andern vorzuziehn,</l><lb/> <l>Da mir an ſeinem Platz jeder der rechte ſchien?</l> </lg><lb/> <lg n="7"> <l>Bis mir die Einſicht kam, daß alle Weisheit bringt</l><lb/> <l>Bedingte Wahrheit nur, nicht Wahrheit unbedingt;</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [90/0100]
128.
Ich denke, daß auch dich zu Zeiten noch verwirret,
Was in der Jugend mich ſo manichfach geirret;
Wenn den Ausſpruͤchen ich der Weiſen aller Zeiten
Gieng glaͤubig nach und mich von ihnen gern ließ leiten;
Da ſtellt' ich jeden mir als einen Leitſtern vor,
Und jede Perle nahm ich freudig in mein Ohr.
Wenn meine Spruͤche nun, die goldnen, ich verglich,
Mit Staunen nahm ich wahr: ſie widerſprachen ſich.
Und weil ich konnte nun nicht alle mehr zuſammen
Annehmen, hatt' ich Luſt ſie alle zu verdammen.
Denn welchen haͤtt' ich Recht dem andern vorzuziehn,
Da mir an ſeinem Platz jeder der rechte ſchien?
Bis mir die Einſicht kam, daß alle Weisheit bringt
Bedingte Wahrheit nur, nicht Wahrheit unbedingt;
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