chern, oder aus hingeworfenen Aeußerungen des Meisters, daß eben dessen größeste und gelungenste Leistungen aus einer zwie- fachen Begeisterung hervorgegangen waren: jener, welche vom Begriffe ausgeht, und jener anderen, unabhängigen, welche die Anschauung der Natur in ihren mannichfaltig schönen und vielbedeutenden Formen, doch nur den empfänglichen, wahrhaft künstlerischen Seelen gewähret.
Gewiß war Raphael schon vor seiner ersten florentini- schen Reise in dieses Geheimniß eingeweiht; denn er zeigte in der Vermählung der Jungfrau zu Mayland, in der Himmel- fahrt der vaticanischen Gallerie, in dem Gekreuzigten der Gal- lerie des Cardinal Fesch*), wie überall in seinen übrigen, im Schulgeschmacke des Pietro gefertigten Gemälden bereits viel sorgliche und liebevolle Beobachtung des Lebens. Doch jenes tiefere Eingehn in die Gesetze der Gestaltung, jenes bedacht- lose sich Hingeben in den Reiz der natürlichen Erscheinungen, welches ihn nun bald zum vollendeten Meister bilden sollte, wagte er erst, nachdem er die Fesseln der Schule ganz abge- worfen und ohne Vorbehalt die Richtung damaliger Florenti- ner eingeschlagen hatte. Also werden wir im Ganzen anneh- men können, daß er den reinen, keuschen Sinn, die Achtung für das Herkömmliche, die religiöse Strenge in der Auffassung seiner ideellen Aufgaben, vornehmlich dem Beyspiele, den Leh-
Hl. Stephanus der Unterkirche des Hl. Franz zu Asisi. Madonna auf dem Throne von einigen Heiligen umgeben; am Sockel: A. D. M. CCCCC. XVI. XV. IVLII. Seine a fresco Malerey in der Celle des Hl. Franz in s. Maria degli Angeli ist gleichfalls ausge- zeichnet. Minder das Bild im Rathhause zu Spoleti. Schöne Gemälde dss. zu Trevi und sonst.
chern, oder aus hingeworfenen Aeußerungen des Meiſters, daß eben deſſen groͤßeſte und gelungenſte Leiſtungen aus einer zwie- fachen Begeiſterung hervorgegangen waren: jener, welche vom Begriffe ausgeht, und jener anderen, unabhaͤngigen, welche die Anſchauung der Natur in ihren mannichfaltig ſchoͤnen und vielbedeutenden Formen, doch nur den empfaͤnglichen, wahrhaft kuͤnſtleriſchen Seelen gewaͤhret.
Gewiß war Raphael ſchon vor ſeiner erſten florentini- ſchen Reiſe in dieſes Geheimniß eingeweiht; denn er zeigte in der Vermaͤhlung der Jungfrau zu Mayland, in der Himmel- fahrt der vaticaniſchen Gallerie, in dem Gekreuzigten der Gal- lerie des Cardinal Feſch*), wie uͤberall in ſeinen uͤbrigen, im Schulgeſchmacke des Pietro gefertigten Gemaͤlden bereits viel ſorgliche und liebevolle Beobachtung des Lebens. Doch jenes tiefere Eingehn in die Geſetze der Geſtaltung, jenes bedacht- loſe ſich Hingeben in den Reiz der natuͤrlichen Erſcheinungen, welches ihn nun bald zum vollendeten Meiſter bilden ſollte, wagte er erſt, nachdem er die Feſſeln der Schule ganz abge- worfen und ohne Vorbehalt die Richtung damaliger Florenti- ner eingeſchlagen hatte. Alſo werden wir im Ganzen anneh- men koͤnnen, daß er den reinen, keuſchen Sinn, die Achtung fuͤr das Herkoͤmmliche, die religioͤſe Strenge in der Auffaſſung ſeiner ideellen Aufgaben, vornehmlich dem Beyſpiele, den Leh-
Hl. Stephanus der Unterkirche des Hl. Franz zu Aſiſi. Madonna auf dem Throne von einigen Heiligen umgeben; am Sockel: A. D. M. CCCCC. XVI. XV. IVLII. Seine a fresco Malerey in der Celle des Hl. Franz in ſ. Maria degli Angeli iſt gleichfalls ausge- zeichnet. Minder das Bild im Rathhauſe zu Spoleti. Schoͤne Gemaͤlde dſſ. zu Trevi und ſonſt.
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chern, oder aus hingeworfenen Aeußerungen des Meiſters, daß
eben deſſen groͤßeſte und gelungenſte Leiſtungen aus einer zwie-
fachen Begeiſterung hervorgegangen waren: jener, welche vom
Begriffe ausgeht, und jener anderen, unabhaͤngigen, welche die
Anſchauung der Natur in ihren mannichfaltig ſchoͤnen und
vielbedeutenden Formen, doch nur den empfaͤnglichen, wahrhaft
kuͤnſtleriſchen Seelen gewaͤhret.
Gewiß war Raphael ſchon vor ſeiner erſten florentini-
ſchen Reiſe in dieſes Geheimniß eingeweiht; denn er zeigte in
der Vermaͤhlung der Jungfrau zu Mayland, in der Himmel-
fahrt der vaticaniſchen Gallerie, in dem Gekreuzigten der Gal-
lerie des Cardinal Feſch *), wie uͤberall in ſeinen uͤbrigen, im
Schulgeſchmacke des Pietro gefertigten Gemaͤlden bereits viel
ſorgliche und liebevolle Beobachtung des Lebens. Doch jenes
tiefere Eingehn in die Geſetze der Geſtaltung, jenes bedacht-
loſe ſich Hingeben in den Reiz der natuͤrlichen Erſcheinungen,
welches ihn nun bald zum vollendeten Meiſter bilden ſollte,
wagte er erſt, nachdem er die Feſſeln der Schule ganz abge-
worfen und ohne Vorbehalt die Richtung damaliger Florenti-
ner eingeſchlagen hatte. Alſo werden wir im Ganzen anneh-
men koͤnnen, daß er den reinen, keuſchen Sinn, die Achtung
fuͤr das Herkoͤmmliche, die religioͤſe Strenge in der Auffaſſung
ſeiner ideellen Aufgaben, vornehmlich dem Beyſpiele, den Leh-
**)
*) Dieſes Bild traͤgt die Aufſchrift: RAPHAEL VRRINAS P.
**) Hl. Stephanus der Unterkirche des Hl. Franz zu Aſiſi. Madonna
auf dem Throne von einigen Heiligen umgeben; am Sockel: A.
D. M. CCCCC. XVI. XV. IVLII. Seine a fresco Malerey in der
Celle des Hl. Franz in ſ. Maria degli Angeli iſt gleichfalls ausge-
zeichnet. Minder das Bild im Rathhauſe zu Spoleti. Schoͤne
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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/367>, abgerufen am 27.07.2024.
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