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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877.

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welcher bis zum geheimsten Innersten der Menschen und zum
tiefsten Kernpunkte alles Bestehenden drang, haßte er nichts
so sehr, wie die Lüge, den Schein und die Halbheit, und er
konnte sich in dieser Hinsicht über Personen und Dinge mit
einer zerschmetternden Rückhaltslosigkeit äußern, welche selbst
Jene, die im Allgemeinen seine Ansicht theilten, befrem¬
den mußte und mit der man sich nur versöhnen konnte,
wenn man vernahm, mit welcher Begeisterung er von
allem Aechten, Guten und Schönen sprach und wie so ganz
ohne Schonung er gegen seine eigenen Fehler und
Schwächen zu Felde zog. Dabei war er harmlos wie ein
Kind, nur fähig, in der Idee zu hassen und zu ver¬
folgen; in Wirklichkeit jedoch konnte es jeder menschlichen Ver¬
irrung gegenüber keinen einsichtsvolleren Beurtheiler, keinen
milderen Richter geben, als ihn. Am deutlichsten trat diese
Eigenthümlichkeit hervor, wenn er auf das andere Geschlecht
zu sprechen kam. Ich habe Niemanden gekannt, der die weib¬
liche Natur tief, gleich ihm, erfaßt hätte. Wie er ein Auge
besaß, das für die feinsten Reize und Abstufungen der Schön¬
heit empfänglich war, so entging ihm auch nicht der verbor¬
genste Zug des Herzens und der Seele, und wenn er sich auch
hin und wieder über die Frauen im Allgemeinen zu einem
Worte hinreißen ließ, das an die Aussprüche des Frankfurter
Weltweisen erinnerte, so war er hinterher doch gleich bemüht,
alles, was er an ihnen zu tadeln fand, auf die sociale Stellung

welcher bis zum geheimſten Innerſten der Menſchen und zum
tiefſten Kernpunkte alles Beſtehenden drang, haßte er nichts
ſo ſehr, wie die Lüge, den Schein und die Halbheit, und er
konnte ſich in dieſer Hinſicht über Perſonen und Dinge mit
einer zerſchmetternden Rückhaltsloſigkeit äußern, welche ſelbſt
Jene, die im Allgemeinen ſeine Anſicht theilten, befrem¬
den mußte und mit der man ſich nur verſöhnen konnte,
wenn man vernahm, mit welcher Begeiſterung er von
allem Aechten, Guten und Schönen ſprach und wie ſo ganz
ohne Schonung er gegen ſeine eigenen Fehler und
Schwächen zu Felde zog. Dabei war er harmlos wie ein
Kind, nur fähig, in der Idee zu haſſen und zu ver¬
folgen; in Wirklichkeit jedoch konnte es jeder menſchlichen Ver¬
irrung gegenüber keinen einſichtsvolleren Beurtheiler, keinen
milderen Richter geben, als ihn. Am deutlichſten trat dieſe
Eigenthümlichkeit hervor, wenn er auf das andere Geſchlecht
zu ſprechen kam. Ich habe Niemanden gekannt, der die weib¬
liche Natur tief, gleich ihm, erfaßt hätte. Wie er ein Auge
beſaß, das für die feinſten Reize und Abſtufungen der Schön¬
heit empfänglich war, ſo entging ihm auch nicht der verbor¬
genſte Zug des Herzens und der Seele, und wenn er ſich auch
hin und wieder über die Frauen im Allgemeinen zu einem
Worte hinreißen ließ, das an die Ausſprüche des Frankfurter
Weltweiſen erinnerte, ſo war er hinterher doch gleich bemüht,
alles, was er an ihnen zu tadeln fand, auf die ſociale Stellung

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[192/0208] welcher bis zum geheimſten Innerſten der Menſchen und zum tiefſten Kernpunkte alles Beſtehenden drang, haßte er nichts ſo ſehr, wie die Lüge, den Schein und die Halbheit, und er konnte ſich in dieſer Hinſicht über Perſonen und Dinge mit einer zerſchmetternden Rückhaltsloſigkeit äußern, welche ſelbſt Jene, die im Allgemeinen ſeine Anſicht theilten, befrem¬ den mußte und mit der man ſich nur verſöhnen konnte, wenn man vernahm, mit welcher Begeiſterung er von allem Aechten, Guten und Schönen ſprach und wie ſo ganz ohne Schonung er gegen ſeine eigenen Fehler und Schwächen zu Felde zog. Dabei war er harmlos wie ein Kind, nur fähig, in der Idee zu haſſen und zu ver¬ folgen; in Wirklichkeit jedoch konnte es jeder menſchlichen Ver¬ irrung gegenüber keinen einſichtsvolleren Beurtheiler, keinen milderen Richter geben, als ihn. Am deutlichſten trat dieſe Eigenthümlichkeit hervor, wenn er auf das andere Geſchlecht zu ſprechen kam. Ich habe Niemanden gekannt, der die weib¬ liche Natur tief, gleich ihm, erfaßt hätte. Wie er ein Auge beſaß, das für die feinſten Reize und Abſtufungen der Schön¬ heit empfänglich war, ſo entging ihm auch nicht der verbor¬ genſte Zug des Herzens und der Seele, und wenn er ſich auch hin und wieder über die Frauen im Allgemeinen zu einem Worte hinreißen ließ, das an die Ausſprüche des Frankfurter Weltweiſen erinnerte, ſo war er hinterher doch gleich bemüht, alles, was er an ihnen zu tadeln fand, auf die ſociale Stellung

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Zitationshilfe: Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/208>, abgerufen am 23.11.2024.