Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Bearbeitung des natürlichen Systems unter dem
je weniger ein Theil der Organisation mit speciellen Lebens-
gewohnheiten verknüpft ist, er desto wichtiger für die Classification
wird. Er hebt ebenso wie Robert Brown und De Can-
dolle die hohe classificatorische Wichtigkeit der abortirten, physiolo-
gisch nutzlosen Organe hervor, weist auf solche Fälle hin, wo
sehr entfernte Verwandtschaftsbeziehungen nur durch zahlreiche
Uebergangsformen oder Zwischenglieder zu Tage treten, wofür
im Thierreich die Classe der Crustaceen ein besonders auffallen-
des Beispiel liefert, wofür sich aber im Pflanzenreich gewisse
Formenreihen der Thallophyten, die Muscineen, die Aroideen
und andere Beispiele anführen lassen; in solchen Fällen nämlich
haben die entferntesten Glieder einer Verwandtschaftsreihe zuweilen
kein einziges Merkmal mit einander gemein, welches sie nicht
auch mit allen übrigen Pflanzen einer viel größeren Abtheilung
theilen u. s. w. In jenem und zahlreichen andern Sätzen Dar-
win's erkennt man deutlich, daß er aus den vorhandenen
natürlichen Systemen der Thiere und Pflanzen wirklich die Re-
geln herauslas, nach denen die Systematiker bis dahin gearbeitet
hatten; diese von Darwin hervorgehobenen Regeln hatten zwar
die Systematiker selbst mehr oder weniger unbewußt practisch
befolgt, aber nicht zu klarem Bewußtsein erhoben. Ganz richtig,
sagt Darwin: wenn die Naturforscher an ihrer Aufgabe
practisch arbeiten, so kümmern sie sich gar nicht um den
physiologischen Werth der Charaktere, welche sie zur Begrenzung
einer Gruppe oder zur Aufstellung einer einzelnen Species brauchen.
Darwin war es, der die bereits von De Candolle unvoll-
ständig erkannte Discordanz zwischen der systematischen Verwandt-
schaft der Organismen und ihrer Anpassung an die Lebensbedin-
gungen vollkommen klar erkannte und consequent festhielt. Es
bedurfte in der That nur dieser einen klaren Erkenntniß, um
die ganze Systematik in ihrem wahren Wesen zu charakterisiren
und die Descendenztheorie als die einzig mögliche Erklärung des
natürlichen Systems erscheinen zu lassen. Die Thatsache, welche
die Morphologen und Systematiker mit schwerer Arbeit nach und
nach zu Tage gefördert, aber in ihrem Werthe nicht hinreichend

Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem
je weniger ein Theil der Organiſation mit ſpeciellen Lebens-
gewohnheiten verknüpft iſt, er deſto wichtiger für die Claſſification
wird. Er hebt ebenſo wie Robert Brown und De Can-
dolle die hohe claſſificatoriſche Wichtigkeit der abortirten, phyſiolo-
giſch nutzloſen Organe hervor, weiſt auf ſolche Fälle hin, wo
ſehr entfernte Verwandtſchaftsbeziehungen nur durch zahlreiche
Uebergangsformen oder Zwiſchenglieder zu Tage treten, wofür
im Thierreich die Claſſe der Cruſtaceen ein beſonders auffallen-
des Beiſpiel liefert, wofür ſich aber im Pflanzenreich gewiſſe
Formenreihen der Thallophyten, die Muſcineen, die Aroideen
und andere Beiſpiele anführen laſſen; in ſolchen Fällen nämlich
haben die entfernteſten Glieder einer Verwandtſchaftsreihe zuweilen
kein einziges Merkmal mit einander gemein, welches ſie nicht
auch mit allen übrigen Pflanzen einer viel größeren Abtheilung
theilen u. ſ. w. In jenem und zahlreichen andern Sätzen Dar-
win's erkennt man deutlich, daß er aus den vorhandenen
natürlichen Syſtemen der Thiere und Pflanzen wirklich die Re-
geln herauslas, nach denen die Syſtematiker bis dahin gearbeitet
hatten; dieſe von Darwin hervorgehobenen Regeln hatten zwar
die Syſtematiker ſelbſt mehr oder weniger unbewußt practiſch
befolgt, aber nicht zu klarem Bewußtſein erhoben. Ganz richtig,
ſagt Darwin: wenn die Naturforſcher an ihrer Aufgabe
practiſch arbeiten, ſo kümmern ſie ſich gar nicht um den
phyſiologiſchen Werth der Charaktere, welche ſie zur Begrenzung
einer Gruppe oder zur Aufſtellung einer einzelnen Species brauchen.
Darwin war es, der die bereits von De Candolle unvoll-
ſtändig erkannte Discordanz zwiſchen der ſyſtematiſchen Verwandt-
ſchaft der Organismen und ihrer Anpaſſung an die Lebensbedin-
gungen vollkommen klar erkannte und conſequent feſthielt. Es
bedurfte in der That nur dieſer einen klaren Erkenntniß, um
die ganze Syſtematik in ihrem wahren Weſen zu charakteriſiren
und die Deſcendenztheorie als die einzig mögliche Erklärung des
natürlichen Syſtems erſcheinen zu laſſen. Die Thatſache, welche
die Morphologen und Syſtematiker mit ſchwerer Arbeit nach und
nach zu Tage gefördert, aber in ihrem Werthe nicht hinreichend

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0176" n="164"/><fw place="top" type="header">Bearbeitung des natürlichen Sy&#x017F;tems unter dem</fw><lb/>
je weniger ein Theil der Organi&#x017F;ation mit &#x017F;peciellen Lebens-<lb/>
gewohnheiten verknüpft i&#x017F;t, er de&#x017F;to wichtiger für die Cla&#x017F;&#x017F;ification<lb/>
wird. Er hebt eben&#x017F;o wie <hi rendition="#g">Robert Brown</hi> und <hi rendition="#g">De Can</hi>-<lb/><hi rendition="#g">dolle</hi> die hohe cla&#x017F;&#x017F;ificatori&#x017F;che Wichtigkeit der abortirten, phy&#x017F;iolo-<lb/>
gi&#x017F;ch nutzlo&#x017F;en Organe hervor, wei&#x017F;t auf &#x017F;olche Fälle hin, wo<lb/>
&#x017F;ehr entfernte Verwandt&#x017F;chaftsbeziehungen nur durch zahlreiche<lb/>
Uebergangsformen oder Zwi&#x017F;chenglieder zu Tage treten, wofür<lb/>
im Thierreich die Cla&#x017F;&#x017F;e der Cru&#x017F;taceen ein be&#x017F;onders auffallen-<lb/>
des Bei&#x017F;piel liefert, wofür &#x017F;ich aber im Pflanzenreich gewi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
Formenreihen der Thallophyten, die Mu&#x017F;cineen, die Aroideen<lb/>
und andere Bei&#x017F;piele anführen la&#x017F;&#x017F;en; in &#x017F;olchen Fällen nämlich<lb/>
haben die entfernte&#x017F;ten Glieder einer Verwandt&#x017F;chaftsreihe zuweilen<lb/>
kein einziges Merkmal mit einander gemein, welches &#x017F;ie nicht<lb/>
auch mit allen übrigen Pflanzen einer viel größeren Abtheilung<lb/>
theilen u. &#x017F;. w. In jenem und zahlreichen andern Sätzen <hi rendition="#g">Dar</hi>-<lb/><hi rendition="#g">win</hi>'s erkennt man deutlich, daß er aus den vorhandenen<lb/>
natürlichen Sy&#x017F;temen der Thiere und Pflanzen wirklich die Re-<lb/>
geln herauslas, nach denen die Sy&#x017F;tematiker bis dahin gearbeitet<lb/>
hatten; die&#x017F;e von <hi rendition="#g">Darwin</hi> hervorgehobenen Regeln hatten zwar<lb/>
die Sy&#x017F;tematiker &#x017F;elb&#x017F;t mehr oder weniger unbewußt practi&#x017F;ch<lb/>
befolgt, aber nicht zu klarem Bewußt&#x017F;ein erhoben. Ganz richtig,<lb/>
&#x017F;agt <hi rendition="#g">Darwin</hi>: wenn die Naturfor&#x017F;cher an ihrer Aufgabe<lb/><hi rendition="#g">practi&#x017F;ch</hi> arbeiten, &#x017F;o kümmern &#x017F;ie &#x017F;ich gar nicht um den<lb/>
phy&#x017F;iologi&#x017F;chen Werth der Charaktere, welche &#x017F;ie zur Begrenzung<lb/>
einer Gruppe oder zur Auf&#x017F;tellung einer einzelnen Species brauchen.<lb/><hi rendition="#g">Darwin</hi> war es, der die bereits von <hi rendition="#g">De Candolle</hi> unvoll-<lb/>
&#x017F;tändig erkannte Discordanz zwi&#x017F;chen der &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;chen Verwandt-<lb/>
&#x017F;chaft der Organismen und ihrer Anpa&#x017F;&#x017F;ung an die Lebensbedin-<lb/>
gungen vollkommen klar erkannte und con&#x017F;equent fe&#x017F;thielt. Es<lb/>
bedurfte in der That nur die&#x017F;er einen klaren Erkenntniß, um<lb/>
die ganze Sy&#x017F;tematik in ihrem wahren We&#x017F;en zu charakteri&#x017F;iren<lb/>
und die De&#x017F;cendenztheorie als die einzig mögliche Erklärung des<lb/>
natürlichen Sy&#x017F;tems er&#x017F;cheinen zu la&#x017F;&#x017F;en. Die That&#x017F;ache, welche<lb/>
die Morphologen und Sy&#x017F;tematiker mit &#x017F;chwerer Arbeit nach und<lb/>
nach zu Tage gefördert, aber in ihrem Werthe nicht hinreichend<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[164/0176] Bearbeitung des natürlichen Syſtems unter dem je weniger ein Theil der Organiſation mit ſpeciellen Lebens- gewohnheiten verknüpft iſt, er deſto wichtiger für die Claſſification wird. Er hebt ebenſo wie Robert Brown und De Can- dolle die hohe claſſificatoriſche Wichtigkeit der abortirten, phyſiolo- giſch nutzloſen Organe hervor, weiſt auf ſolche Fälle hin, wo ſehr entfernte Verwandtſchaftsbeziehungen nur durch zahlreiche Uebergangsformen oder Zwiſchenglieder zu Tage treten, wofür im Thierreich die Claſſe der Cruſtaceen ein beſonders auffallen- des Beiſpiel liefert, wofür ſich aber im Pflanzenreich gewiſſe Formenreihen der Thallophyten, die Muſcineen, die Aroideen und andere Beiſpiele anführen laſſen; in ſolchen Fällen nämlich haben die entfernteſten Glieder einer Verwandtſchaftsreihe zuweilen kein einziges Merkmal mit einander gemein, welches ſie nicht auch mit allen übrigen Pflanzen einer viel größeren Abtheilung theilen u. ſ. w. In jenem und zahlreichen andern Sätzen Dar- win's erkennt man deutlich, daß er aus den vorhandenen natürlichen Syſtemen der Thiere und Pflanzen wirklich die Re- geln herauslas, nach denen die Syſtematiker bis dahin gearbeitet hatten; dieſe von Darwin hervorgehobenen Regeln hatten zwar die Syſtematiker ſelbſt mehr oder weniger unbewußt practiſch befolgt, aber nicht zu klarem Bewußtſein erhoben. Ganz richtig, ſagt Darwin: wenn die Naturforſcher an ihrer Aufgabe practiſch arbeiten, ſo kümmern ſie ſich gar nicht um den phyſiologiſchen Werth der Charaktere, welche ſie zur Begrenzung einer Gruppe oder zur Aufſtellung einer einzelnen Species brauchen. Darwin war es, der die bereits von De Candolle unvoll- ſtändig erkannte Discordanz zwiſchen der ſyſtematiſchen Verwandt- ſchaft der Organismen und ihrer Anpaſſung an die Lebensbedin- gungen vollkommen klar erkannte und conſequent feſthielt. Es bedurfte in der That nur dieſer einen klaren Erkenntniß, um die ganze Syſtematik in ihrem wahren Weſen zu charakteriſiren und die Deſcendenztheorie als die einzig mögliche Erklärung des natürlichen Syſtems erſcheinen zu laſſen. Die Thatſache, welche die Morphologen und Syſtematiker mit ſchwerer Arbeit nach und nach zu Tage gefördert, aber in ihrem Werthe nicht hinreichend

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/176
Zitationshilfe: Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/176>, abgerufen am 24.11.2024.