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Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791.

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die Menschen (Ausnahmen stossen die Wahrheit der
Regel nicht um), mögen die Wahrheit nur so lange
hören, bis sie sich das Recht herausnimmt, die Hören-
den selbst zu strafen. "Das ist eine unverzeihliche
Unhöflichkeit: wir hören dem Prediger so viele Jahre
geduldig zu, und er will unsre Schwachheiten nicht
keilig sprechen
, und unsre Thorheiten nicht entschuldi-
gen
, und unsre Krankheiten nicht sanft streichen, und
das Ende unsers Weges nicht vor uns verbergen." So
denken die verwundeten Menschen, wenn sie es gleich
nicht sagen. Wenn nun der Prediger seine Lehre nach
dieser geheimen Denkart
seiner Zuhörer zuschneidet,
und ihre Höflichkeit mit einer andern bezahlt -- ihre
Thorheiten, Schwächen, Verbrechen, wie ein Hei-
ligthum schonet: so werden seine Vorträge gern ge-
hört werden, aber statt das Unkraut auszurotten, selbst
nach Feindes Art neues säen.

Ein entgegengesetzter Fehler ist es 5) in allen
Predigten nur von der Sünde sprechen, nur stra-
fen
, dass sich auch der bessere Theil mit Grunde be-
klagen kann: unser Prediger wird das ganze Jahr
nie gut mit uns
. Wozu ist denn die Liebe Gottes
gegen uns, als dass sie die Menschen zur Gegenliebe
reize? Wozu die Freundlichkeit Jesu, als dass
sie die fähigen Herzen an sich ziehe? Zwar sind nicht
alle fähig, den Zug jener Liebe und dieser Freundlich-
keit zu fühlen: aber einige sind es doch, und diese ei-
nige wollen auch Vortheile aus der Predigt haben.
Es ist diess überhaupt das seltenste Kunststück des Pre-

digers,

die Menſchen (Ausnahmen ſtoſſen die Wahrheit der
Regel nicht um), mögen die Wahrheit nur ſo lange
hören, bis ſie ſich das Recht herausnimmt, die Hören-
den ſelbſt zu ſtrafen. „Das iſt eine unverzeihliche
Unhöflichkeit: wir hören dem Prediger ſo viele Jahre
geduldig zu, und er will unſre Schwachheiten nicht
keilig ſprechen
, und unſre Thorheiten nicht entſchuldi-
gen
, und unſre Krankheiten nicht ſanft ſtreichen, und
das Ende unſers Weges nicht vor uns verbergen.“ So
denken die verwundeten Menſchen, wenn ſie es gleich
nicht ſagen. Wenn nun der Prediger ſeine Lehre nach
dieſer geheimen Denkart
ſeiner Zuhörer zuſchneidet,
und ihre Höflichkeit mit einer andern bezahlt — ihre
Thorheiten, Schwächen, Verbrechen, wie ein Hei-
ligthum ſchonet: ſo werden ſeine Vorträge gern ge-
hört werden, aber ſtatt das Unkraut auszurotten, ſelbſt
nach Feindes Art neues ſäen.

Ein entgegengeſetzter Fehler iſt es 5) in allen
Predigten nur von der Sünde ſprechen, nur ſtra-
fen
, daſs ſich auch der beſſere Theil mit Grunde be-
klagen kann: unſer Prediger wird das ganze Jahr
nie gut mit uns
. Wozu iſt denn die Liebe Gottes
gegen uns, als daſs ſie die Menſchen zur Gegenliebe
reize? Wozu die Freundlichkeit Jeſu, als daſs
ſie die fähigen Herzen an ſich ziehe? Zwar ſind nicht
alle fähig, den Zug jener Liebe und dieſer Freundlich-
keit zu fühlen: aber einige ſind es doch, und dieſe ei-
nige wollen auch Vortheile aus der Predigt haben.
Es iſt dieſs überhaupt das ſeltenſte Kunſtſtück des Pre-

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[118/0132] die Menſchen (Ausnahmen ſtoſſen die Wahrheit der Regel nicht um), mögen die Wahrheit nur ſo lange hören, bis ſie ſich das Recht herausnimmt, die Hören- den ſelbſt zu ſtrafen. „Das iſt eine unverzeihliche Unhöflichkeit: wir hören dem Prediger ſo viele Jahre geduldig zu, und er will unſre Schwachheiten nicht keilig ſprechen, und unſre Thorheiten nicht entſchuldi- gen, und unſre Krankheiten nicht ſanft ſtreichen, und das Ende unſers Weges nicht vor uns verbergen.“ So denken die verwundeten Menſchen, wenn ſie es gleich nicht ſagen. Wenn nun der Prediger ſeine Lehre nach dieſer geheimen Denkart ſeiner Zuhörer zuſchneidet, und ihre Höflichkeit mit einer andern bezahlt — ihre Thorheiten, Schwächen, Verbrechen, wie ein Hei- ligthum ſchonet: ſo werden ſeine Vorträge gern ge- hört werden, aber ſtatt das Unkraut auszurotten, ſelbſt nach Feindes Art neues ſäen. Ein entgegengeſetzter Fehler iſt es 5) in allen Predigten nur von der Sünde ſprechen, nur ſtra- fen, daſs ſich auch der beſſere Theil mit Grunde be- klagen kann: unſer Prediger wird das ganze Jahr nie gut mit uns. Wozu iſt denn die Liebe Gottes gegen uns, als daſs ſie die Menſchen zur Gegenliebe reize? Wozu die Freundlichkeit Jeſu, als daſs ſie die fähigen Herzen an ſich ziehe? Zwar ſind nicht alle fähig, den Zug jener Liebe und dieſer Freundlich- keit zu fühlen: aber einige ſind es doch, und dieſe ei- nige wollen auch Vortheile aus der Predigt haben. Es iſt dieſs überhaupt das ſeltenſte Kunſtſtück des Pre- digers,

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791/132>, abgerufen am 21.11.2024.