Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

Predigt? Und, wenn das "verstanden werden" offen-
bar von der Fähigkeit zu verstehen -- von der Fas-
sungskraft abhängt: so kann sich der Prediger wohl
nicht zu oft fragen, nicht bloss: verstehe ich mich
auch? sondern: versteht mich auch mein Volk?

Die Wahrheit, die der Prediger vorträgt, muss
2) den geistigen Bedürfnissen seiner Zuhorer an-
gemessen seyn. Man kann sie, in dieser Hinsicht, be-
quem in drey Klassen theilen. Einige dienen noch blind
und kalt der Sünde
, und diese bedürfen aus ihrem To-
desschlummer aufgeweckt zu werden. Andere sind
aufgeweckt, und kämpfen mit sich und der Sünde, und
diese bedürfen zum ferneren Streite angeleitet und ge-
stärkt zu werden. Wieder andere haben sich bis zur
Tugend durchgekämpft, können aber unter dem Dru-
cke der Leiden
in ihrer Lage keinen Trost finden, und
diese bedürfen getröstet zu werden. Es wird also der
Prediger seine Belehrungen so einrichten, dass sie we-
cken
, was schläft, stärken, was sinkt, und trösten,
was nach Trost schmachtet. Es hat das göttliche Ev-
angelium Kraft genug zu wecken, zu stärken, zu trö-
sten. Wohl uns, wenn dasselbe zuerst den Prediger
geweckt, gestärkt und getröstet hat, und durch ihn
Weckstimme, Stärkungsmittel und Trostquelle für an-
dere wird! "Es ist ein Vater im Himmel, der die
Liebe und Erbarmung selbst ist; ein Freund, der für
uns aus Liebe starb, nachdem Er uns das Gute durch
Lehre und Wandel vorgezeichnet hat, und ein Rich-
ter
, der jedem nach seinen Werken vergelten wird;
ein heiliger Geist, der uns das Gute recht kennen lehrt

und

Predigt? Und, wenn das „verſtanden werden“ offen-
bar von der Fähigkeit zu verſtehen — von der Faſ-
ſungskraft abhängt: ſo kann ſich der Prediger wohl
nicht zu oft fragen, nicht bloſs: verſtehe ich mich
auch? ſondern: verſteht mich auch mein Volk?

Die Wahrheit, die der Prediger vorträgt, muſs
2) den geiſtigen Bedürfniſſen ſeiner Zuhorer an-
gemeſſen ſeyn. Man kann ſie, in dieſer Hinſicht, be-
quem in drey Klaſſen theilen. Einige dienen noch blind
und kalt der Sünde
, und dieſe bedürfen aus ihrem To-
desſchlummer aufgeweckt zu werden. Andere ſind
aufgeweckt, und kämpfen mit ſich und der Sünde, und
dieſe bedürfen zum ferneren Streite angeleitet und ge-
ſtärkt zu werden. Wieder andere haben ſich bis zur
Tugend durchgekämpft, können aber unter dem Dru-
cke der Leiden
in ihrer Lage keinen Troſt finden, und
dieſe bedürfen getröſtet zu werden. Es wird alſo der
Prediger ſeine Belehrungen ſo einrichten, daſs ſie we-
cken
, was ſchläft, ſtärken, was ſinkt, und tröſten,
was nach Troſt ſchmachtet. Es hat das göttliche Ev-
angelium Kraft genug zu wecken, zu ſtärken, zu trö-
ſten. Wohl uns, wenn daſſelbe zuerſt den Prediger
geweckt, geſtärkt und getröſtet hat, und durch ihn
Weckſtimme, Stärkungsmittel und Troſtquelle für an-
dere wird! „Es iſt ein Vater im Himmel, der die
Liebe und Erbarmung ſelbſt iſt; ein Freund, der für
uns aus Liebe ſtarb, nachdem Er uns das Gute durch
Lehre und Wandel vorgezeichnet hat, und ein Rich-
ter
, der jedem nach ſeinen Werken vergelten wird;
ein heiliger Geiſt, der uns das Gute recht kennen lehrt

und
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0029" n="15"/>
Predigt? Und, wenn das &#x201E;ver&#x017F;tanden werden&#x201C; offen-<lb/>
bar von der Fähigkeit zu ver&#x017F;tehen &#x2014; von der Fa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ungskraft abhängt: &#x017F;o kann &#x017F;ich der Prediger wohl<lb/>
nicht zu oft fragen, nicht blo&#x017F;s: ver&#x017F;tehe ich mich<lb/>
auch? &#x017F;ondern: <hi rendition="#i"><hi rendition="#g">ver&#x017F;teht mich auch mein Volk</hi>?</hi></p><lb/>
          <p>Die Wahrheit, die der Prediger vorträgt, mu&#x017F;s<lb/>
2) den <hi rendition="#i"><hi rendition="#g">gei&#x017F;tigen Bedürfni&#x017F;&#x017F;en</hi></hi> &#x017F;einer Zuhorer an-<lb/>
geme&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eyn. Man kann &#x017F;ie, in die&#x017F;er Hin&#x017F;icht, be-<lb/>
quem in drey Kla&#x017F;&#x017F;en theilen. Einige <hi rendition="#i">dienen noch blind<lb/>
und kalt der Sünde</hi>, und die&#x017F;e bedürfen aus ihrem To-<lb/>
des&#x017F;chlummer aufgeweckt zu werden. Andere &#x017F;ind<lb/>
aufgeweckt, und <hi rendition="#i">kämpfen</hi> mit &#x017F;ich und der Sünde, und<lb/>
die&#x017F;e bedürfen zum ferneren Streite angeleitet und ge-<lb/>
&#x017F;tärkt zu werden. Wieder andere haben &#x017F;ich bis zur<lb/>
Tugend durchgekämpft, können aber unter dem <hi rendition="#i">Dru-<lb/>
cke der Leiden</hi> in ihrer Lage keinen Tro&#x017F;t finden, und<lb/>
die&#x017F;e bedürfen getrö&#x017F;tet zu werden. Es wird al&#x017F;o der<lb/>
Prediger &#x017F;eine Belehrungen &#x017F;o einrichten, da&#x017F;s &#x017F;ie <hi rendition="#i">we-<lb/>
cken</hi>, was &#x017F;chläft, <hi rendition="#i">&#x017F;tärken</hi>, was &#x017F;inkt, und <hi rendition="#i">trö&#x017F;ten</hi>,<lb/>
was nach Tro&#x017F;t &#x017F;chmachtet. Es hat das göttliche Ev-<lb/>
angelium Kraft genug zu wecken, zu &#x017F;tärken, zu trö-<lb/>
&#x017F;ten. Wohl uns, wenn da&#x017F;&#x017F;elbe zuer&#x017F;t den Prediger<lb/>
geweckt, ge&#x017F;tärkt und getrö&#x017F;tet hat, und durch ihn<lb/>
Weck&#x017F;timme, Stärkungsmittel und Tro&#x017F;tquelle für an-<lb/>
dere wird! &#x201E;Es i&#x017F;t ein <hi rendition="#i"><hi rendition="#g">Vater</hi></hi> im Himmel, der die<lb/>
Liebe und Erbarmung &#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t; ein <hi rendition="#i"><hi rendition="#g">Freund</hi></hi>, der für<lb/>
uns aus Liebe &#x017F;tarb, nachdem Er uns das Gute durch<lb/>
Lehre und Wandel vorgezeichnet hat, und ein <hi rendition="#i"><hi rendition="#g">Rich-<lb/>
ter</hi></hi>, der jedem nach &#x017F;einen Werken vergelten wird;<lb/>
ein heiliger <hi rendition="#i"><hi rendition="#g">Gei&#x017F;t</hi></hi>, der uns das Gute recht kennen lehrt<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0029] Predigt? Und, wenn das „verſtanden werden“ offen- bar von der Fähigkeit zu verſtehen — von der Faſ- ſungskraft abhängt: ſo kann ſich der Prediger wohl nicht zu oft fragen, nicht bloſs: verſtehe ich mich auch? ſondern: verſteht mich auch mein Volk? Die Wahrheit, die der Prediger vorträgt, muſs 2) den geiſtigen Bedürfniſſen ſeiner Zuhorer an- gemeſſen ſeyn. Man kann ſie, in dieſer Hinſicht, be- quem in drey Klaſſen theilen. Einige dienen noch blind und kalt der Sünde, und dieſe bedürfen aus ihrem To- desſchlummer aufgeweckt zu werden. Andere ſind aufgeweckt, und kämpfen mit ſich und der Sünde, und dieſe bedürfen zum ferneren Streite angeleitet und ge- ſtärkt zu werden. Wieder andere haben ſich bis zur Tugend durchgekämpft, können aber unter dem Dru- cke der Leiden in ihrer Lage keinen Troſt finden, und dieſe bedürfen getröſtet zu werden. Es wird alſo der Prediger ſeine Belehrungen ſo einrichten, daſs ſie we- cken, was ſchläft, ſtärken, was ſinkt, und tröſten, was nach Troſt ſchmachtet. Es hat das göttliche Ev- angelium Kraft genug zu wecken, zu ſtärken, zu trö- ſten. Wohl uns, wenn daſſelbe zuerſt den Prediger geweckt, geſtärkt und getröſtet hat, und durch ihn Weckſtimme, Stärkungsmittel und Troſtquelle für an- dere wird! „Es iſt ein Vater im Himmel, der die Liebe und Erbarmung ſelbſt iſt; ein Freund, der für uns aus Liebe ſtarb, nachdem Er uns das Gute durch Lehre und Wandel vorgezeichnet hat, und ein Rich- ter, der jedem nach ſeinen Werken vergelten wird; ein heiliger Geiſt, der uns das Gute recht kennen lehrt und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791/29
Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791/29>, abgerufen am 23.11.2024.