Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791.Es ist mit der Wahrheit für unsre Seele, wie unser.
Es iſt mit der Wahrheit für unſre Seele, wie unſer.
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Es iſt mit der Wahrheit für unſre Seele, wie
mit der Speiſe für unſern Körper. So lange die Speiſe
noch im Speiſegewölbe aufbehalten wird, nährt ſie
nicht. Wenn ſie im Munde zertheilt wird, nährt ſie
noch nicht. Auch ſo lange ſie im Magen erſt verar-
beitet wird, nährt ſie noch nicht. Aber wenn die
nährenden Theile der Speiſe in Milchſäfte aufgelöſet,
und dieſe in Blut übergegangen ſind: dann nährt die
Speiſe, dann wird ſie unſer Fleiſch. So kann die Idee
der Wahrheit in Büchern aufbehalten werden, und
nährt uns nicht. Sie kann im Gedächtniſſe, wie ein
müſſiges Hausgeräth im Winkel eines Zimmers, hän-
gen, und nährt uns noch nicht. Sie kann ſelbſt von
dem Verſtande auf mancherley Weiſe verarbeitet wer-
den, und nährt uns noch nicht. Aber wenn ſie, die
Wahrheit, nach der beſten Erkenntniſs, die wir von
derſelben haben, von dem Willen geliebt, ange-
wandt und ein Prinzip unſers ganzen Verhal-
tens wird: dann lebt ſie in uns, und nährt und
ſtärkt den menſchlichen Geiſt. Was bloſs im Gedächt-
niſſe aufbehalten wird und nicht vom Verſtande durch-
gedacht iſt, wird gar bald von andern Begriffen und
Leidenſchaften verdrängt, iſt nicht recht unſer. Was
auch vom Verſtande gedacht, aber noch nicht der
Schatz des Herzens geworden iſt, kann von dem,
was der Schatz des Herzens iſt, gar leicht verdrängt
werden, kann wenigſt von allem thätigen Einfluſſe
auf das Herz ausgeſchloſſen werden, iſt nicht ganz
unſer.
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