Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791.tritt, oder an den Händedruck des Greisen, der dir mit Es giebt eine Grösse, meine Theuren, die die Vier- C 5
tritt, oder an den Händedruck des Greiſen, der dir mit Es giebt eine Gröſſe, meine Theuren, die die Vier- C 5
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0055" n="41"/> tritt, oder an den <hi rendition="#i">Händedruck</hi> des Greiſen, der dir mit<lb/> verweinten Augen nach der Predigt für das Wort Got-<lb/> tes dankt, oder an die <hi rendition="#i">verſchreyte Sünderinn</hi>, die dich,<lb/> nach der Predigt, in den Beichtſtuhl ruft, und mit der<lb/> Frage anfängt: <hi rendition="#i">Herr! was muſs ich thun, daſs ich ſelig<lb/> werde?</hi> oder an die <hi rendition="#i">ſterbende Mutter</hi>, die mit dem<lb/> Worte: <hi rendition="#i">Ihre letzte Predigt macht mir das Sterben leicht</hi>,<lb/> einſchläft; oder an die <hi rendition="#i">fromme Magd</hi>, die nach der<lb/> Predigt laut ausruft: <hi rendition="#i">Noch zwey ſolche Predigten; dann<lb/> ſterbe ich gern</hi>. Und dieſe <hi rendition="#i">Erfahrungen</hi> werden allen<lb/> widrigen Urtheilen, die in der Nähe empfangen, und<lb/> in der Nähe oder in der Ferne gebohren werden, das<lb/> Uebergewicht halten; und du wirſt den unverdienten<lb/> Tadel der Welt, wie die Jünger Jeſu die Skorpionen,<lb/> zertreten, und durch den Tadel geſtärkt, noch tiefer<lb/> in das Heiligthum der Wahrheit eindringen, und im<lb/> vertrauten Umgange mit ihr — um die Meynungen der<lb/> Menſchen ſo unbekümmert dahinleben, wie der Fiſch<lb/> im Waſſer ſichs wohlſeyn läſſet — und alle Urtheile<lb/> der Naturforſcher über ihn glücklich ignoritt.</p><lb/> <p>Es giebt eine <hi rendition="#i">Gröſſe</hi>, meine Theuren, die die<lb/><choice><sic>ſcharffichtigſten</sic><corr>ſcharfſichtigſten</corr></choice> Augen nicht ſehen, und die glücklich-<lb/> ſten Genie’s nicht richten, und die geheimſten Griffe<lb/> der ſeindſeligen und gekränkten Leidenſchaft nicht an-<lb/> rühren können. Wer dieſe Gröſſe hat, der hat auch<lb/> die Demuth, ſie in ſich zu verſchlieſsen, und kann das<lb/> Wort der Läſterung nicht achten, nachdem er die gute<lb/> Sache des Friedens in ſich hat.</p><lb/> <fw place="bottom" type="sig">C 5</fw> <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#i">Vier-</hi> </fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [41/0055]
tritt, oder an den Händedruck des Greiſen, der dir mit
verweinten Augen nach der Predigt für das Wort Got-
tes dankt, oder an die verſchreyte Sünderinn, die dich,
nach der Predigt, in den Beichtſtuhl ruft, und mit der
Frage anfängt: Herr! was muſs ich thun, daſs ich ſelig
werde? oder an die ſterbende Mutter, die mit dem
Worte: Ihre letzte Predigt macht mir das Sterben leicht,
einſchläft; oder an die fromme Magd, die nach der
Predigt laut ausruft: Noch zwey ſolche Predigten; dann
ſterbe ich gern. Und dieſe Erfahrungen werden allen
widrigen Urtheilen, die in der Nähe empfangen, und
in der Nähe oder in der Ferne gebohren werden, das
Uebergewicht halten; und du wirſt den unverdienten
Tadel der Welt, wie die Jünger Jeſu die Skorpionen,
zertreten, und durch den Tadel geſtärkt, noch tiefer
in das Heiligthum der Wahrheit eindringen, und im
vertrauten Umgange mit ihr — um die Meynungen der
Menſchen ſo unbekümmert dahinleben, wie der Fiſch
im Waſſer ſichs wohlſeyn läſſet — und alle Urtheile
der Naturforſcher über ihn glücklich ignoritt.
Es giebt eine Gröſſe, meine Theuren, die die
ſcharfſichtigſten Augen nicht ſehen, und die glücklich-
ſten Genie’s nicht richten, und die geheimſten Griffe
der ſeindſeligen und gekränkten Leidenſchaft nicht an-
rühren können. Wer dieſe Gröſſe hat, der hat auch
die Demuth, ſie in ſich zu verſchlieſsen, und kann das
Wort der Läſterung nicht achten, nachdem er die gute
Sache des Friedens in ſich hat.
Vier-
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