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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Scheingründe für den Selbstmord.
Gebet in der Welt lebt, der ist das wehrlo-
feste Geschöpf bey den Versuchungen zum
Selbstmorde. Sobald ihm eine Last uner-
träglich scheint (und wie oft kann sich dieser
Fall ereignen?) so oft er sich ohne Hülfe,
ohne Aussicht, ohne Kraft fühlet -- in den
Sturm der Leiden hinausgeworfen: dann
schwebet er allemal über dem Abgrunde der
Selbsthinrichtung, und sieht ihn, diesen
Abgrund, noch dazu -- für seinen Port an.
Wie schauert mir's ab dem Gemälde? Wie
schrecklich ist das Ende dieses Weges? Und
wie sie ihn so hoch erheben, die Thoren, die
darauf wandeln? Wie sie sich rühmen ihres
Idealgottes, der seine erhabene Größe be-
leidigte, wenn er sich um die Kleinigkeiten
dieser Welt annähme, der die Selbstherr-
schaft an die Gesetze der Natur abgetreten
hat, der für die Millionen, Millionen Seuf-
zer seiner Geschöpfe entweder kein Ohr, oder
wenigstens keine Aufmerksamkeit hat, der mit
dem eisernen Zaum der ewigen Gesetze nur
die Genera und Species leitet, und in
Ordnung hält, ohne die Einzelheiten eines
Blickes zu würdigen -- gleich jener Philo-

sophie,

Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
Gebet in der Welt lebt, der iſt das wehrlo-
feſte Geſchoͤpf bey den Verſuchungen zum
Selbſtmorde. Sobald ihm eine Laſt uner-
traͤglich ſcheint (und wie oft kann ſich dieſer
Fall ereignen?) ſo oft er ſich ohne Huͤlfe,
ohne Ausſicht, ohne Kraft fuͤhlet — in den
Sturm der Leiden hinausgeworfen: dann
ſchwebet er allemal uͤber dem Abgrunde der
Selbſthinrichtung, und ſieht ihn, dieſen
Abgrund, noch dazu — fuͤr ſeinen Port an.
Wie ſchauert mir’s ab dem Gemaͤlde? Wie
ſchrecklich iſt das Ende dieſes Weges? Und
wie ſie ihn ſo hoch erheben, die Thoren, die
darauf wandeln? Wie ſie ſich ruͤhmen ihres
Idealgottes, der ſeine erhabene Groͤße be-
leidigte, wenn er ſich um die Kleinigkeiten
dieſer Welt annaͤhme, der die Selbſtherr-
ſchaft an die Geſetze der Natur abgetreten
hat, der fuͤr die Millionen, Millionen Seuf-
zer ſeiner Geſchoͤpfe entweder kein Ohr, oder
wenigſtens keine Aufmerkſamkeit hat, der mit
dem eiſernen Zaum der ewigen Geſetze nur
die Genera und Species leitet, und in
Ordnung haͤlt, ohne die Einzelheiten eines
Blickes zu wuͤrdigen — gleich jener Philo-

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[107/0119] Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord. Gebet in der Welt lebt, der iſt das wehrlo- feſte Geſchoͤpf bey den Verſuchungen zum Selbſtmorde. Sobald ihm eine Laſt uner- traͤglich ſcheint (und wie oft kann ſich dieſer Fall ereignen?) ſo oft er ſich ohne Huͤlfe, ohne Ausſicht, ohne Kraft fuͤhlet — in den Sturm der Leiden hinausgeworfen: dann ſchwebet er allemal uͤber dem Abgrunde der Selbſthinrichtung, und ſieht ihn, dieſen Abgrund, noch dazu — fuͤr ſeinen Port an. Wie ſchauert mir’s ab dem Gemaͤlde? Wie ſchrecklich iſt das Ende dieſes Weges? Und wie ſie ihn ſo hoch erheben, die Thoren, die darauf wandeln? Wie ſie ſich ruͤhmen ihres Idealgottes, der ſeine erhabene Groͤße be- leidigte, wenn er ſich um die Kleinigkeiten dieſer Welt annaͤhme, der die Selbſtherr- ſchaft an die Geſetze der Natur abgetreten hat, der fuͤr die Millionen, Millionen Seuf- zer ſeiner Geſchoͤpfe entweder kein Ohr, oder wenigſtens keine Aufmerkſamkeit hat, der mit dem eiſernen Zaum der ewigen Geſetze nur die Genera und Species leitet, und in Ordnung haͤlt, ohne die Einzelheiten eines Blickes zu wuͤrdigen — gleich jener Philo- ſophie,

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/119>, abgerufen am 21.11.2024.