Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Scheingründe für den Selbstmord.
"Der schwache Nervenbau war schuld
daran"!

Und wenn durch Erziehung, Lectüre,
Umgang, Schauspiele etc. die Leidenschaft
des schwachen Geschöpfes so hoch gespannt
worden, daß es sich selbst mordete: dann
dreht sich der Philosoph auf seinem Absatz,
und singt sein Liedchen:
"'s war schwacher Nervenbau."

Wie, wenn an einem heissen Som-
mertage der Blitz die fürstliche Burg in
Flamme setzte, und die Bürger, statt daß
sie wetteiferten das Feuer zu löschen, müssig
am Marktplatze zusammenstünden, einander
ansähen, und das Sprüchlein wiederholten:
"Heut war's sehr schwül",
und die Flamme wüten liessen, bis auch
ihre Häuser davon ergriffen wären: gerade
so handeln die Menschenfreunde, die bey
dem Verfall der Sittlichkeit, der von Tag
zu Tag heller in's Auge leuchtet, nichts zu
sagen haben, als vom schwachen Nerven-
bau,
und ihres Ortes selbst dazu beytra-

gen,
H 3

Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
„Der ſchwache Nervenbau war ſchuld
daran“!

Und wenn durch Erziehung, Lectuͤre,
Umgang, Schauſpiele ꝛc. die Leidenſchaft
des ſchwachen Geſchoͤpfes ſo hoch geſpannt
worden, daß es ſich ſelbſt mordete: dann
dreht ſich der Philoſoph auf ſeinem Abſatz,
und ſingt ſein Liedchen:
„’s war ſchwacher Nervenbau.“

Wie, wenn an einem heiſſen Som-
mertage der Blitz die fuͤrſtliche Burg in
Flamme ſetzte, und die Buͤrger, ſtatt daß
ſie wetteiferten das Feuer zu loͤſchen, muͤſſig
am Marktplatze zuſammenſtuͤnden, einander
anſaͤhen, und das Spruͤchlein wiederholten:
„Heut war’s ſehr ſchwuͤl“,
und die Flamme wuͤten lieſſen, bis auch
ihre Haͤuſer davon ergriffen waͤren: gerade
ſo handeln die Menſchenfreunde, die bey
dem Verfall der Sittlichkeit, der von Tag
zu Tag heller in’s Auge leuchtet, nichts zu
ſagen haben, als vom ſchwachen Nerven-
bau,
und ihres Ortes ſelbſt dazu beytra-

gen,
H 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p>
            <pb facs="#f0129" n="117"/>
            <fw place="top" type="header">Scheingru&#x0364;nde fu&#x0364;r den Selb&#x017F;tmord.</fw><lb/> <hi rendition="#et"> <hi rendition="#fr">&#x201E;Der &#x017F;chwache Nervenbau war &#x017F;chuld<lb/>
daran&#x201C;!</hi> </hi> </p><lb/>
          <p>Und wenn durch Erziehung, Lectu&#x0364;re,<lb/>
Umgang, Schau&#x017F;piele &#xA75B;c. die Leiden&#x017F;chaft<lb/>
des &#x017F;chwachen Ge&#x017F;cho&#x0364;pfes &#x017F;o hoch ge&#x017F;pannt<lb/>
worden, daß es &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t mordete: dann<lb/>
dreht &#x017F;ich der Philo&#x017F;oph auf &#x017F;einem Ab&#x017F;atz,<lb/>
und &#x017F;ingt &#x017F;ein Liedchen:<lb/><hi rendition="#c"><hi rendition="#fr">&#x201E;&#x2019;s war &#x017F;chwacher Nervenbau.&#x201C;</hi></hi></p><lb/>
          <p>Wie, wenn an einem hei&#x017F;&#x017F;en Som-<lb/>
mertage der Blitz die fu&#x0364;r&#x017F;tliche Burg in<lb/>
Flamme &#x017F;etzte, und die Bu&#x0364;rger, &#x017F;tatt daß<lb/>
&#x017F;ie wetteiferten das Feuer zu lo&#x0364;&#x017F;chen, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig<lb/>
am Marktplatze zu&#x017F;ammen&#x017F;tu&#x0364;nden, einander<lb/>
an&#x017F;a&#x0364;hen, und das Spru&#x0364;chlein wiederholten:<lb/><hi rendition="#c">&#x201E;Heut war&#x2019;s &#x017F;ehr &#x017F;chwu&#x0364;l&#x201C;,</hi><lb/>
und die Flamme wu&#x0364;ten lie&#x017F;&#x017F;en, bis auch<lb/>
ihre Ha&#x0364;u&#x017F;er davon ergriffen wa&#x0364;ren: gerade<lb/>
&#x017F;o handeln die Men&#x017F;chenfreunde, die bey<lb/>
dem Verfall der Sittlichkeit, der von Tag<lb/>
zu Tag heller in&#x2019;s Auge leuchtet, nichts zu<lb/>
&#x017F;agen haben, als vom <hi rendition="#fr">&#x017F;chwachen Nerven-<lb/>
bau,</hi> und ihres Ortes &#x017F;elb&#x017F;t dazu beytra-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 3</fw><fw place="bottom" type="catch">gen,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[117/0129] Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord. „Der ſchwache Nervenbau war ſchuld daran“! Und wenn durch Erziehung, Lectuͤre, Umgang, Schauſpiele ꝛc. die Leidenſchaft des ſchwachen Geſchoͤpfes ſo hoch geſpannt worden, daß es ſich ſelbſt mordete: dann dreht ſich der Philoſoph auf ſeinem Abſatz, und ſingt ſein Liedchen: „’s war ſchwacher Nervenbau.“ Wie, wenn an einem heiſſen Som- mertage der Blitz die fuͤrſtliche Burg in Flamme ſetzte, und die Buͤrger, ſtatt daß ſie wetteiferten das Feuer zu loͤſchen, muͤſſig am Marktplatze zuſammenſtuͤnden, einander anſaͤhen, und das Spruͤchlein wiederholten: „Heut war’s ſehr ſchwuͤl“, und die Flamme wuͤten lieſſen, bis auch ihre Haͤuſer davon ergriffen waͤren: gerade ſo handeln die Menſchenfreunde, die bey dem Verfall der Sittlichkeit, der von Tag zu Tag heller in’s Auge leuchtet, nichts zu ſagen haben, als vom ſchwachen Nerven- bau, und ihres Ortes ſelbſt dazu beytra- gen, H 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/129
Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/129>, abgerufen am 21.11.2024.