Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.Erster Abschnitt. nie auf die Wahrscheinlichkeit, oder wenigstauf die Möglichkeit kommender Errettung hinzusehen. Allein eben dieses beweiset ja, daß es nicht eigentlich die Leiden sind, die den Trieb zur Selbsterhaltung in dir über- wältigen, sondern daß die Partheylichkeit deines Herzens die Vorstellungen von der Größe der Leiden so hoch spannen kann, daß sie den Trieb zur Selbsterhaltung unterdrü- cken. Man mag nun das Reich der mensch- lichen Freythätigkeit erweitern oder verengen, wie man will: so kann doch kein ruhiger, helldenkender Verstand daran zweifeln, daß die Ueberspannung der Vorstellungen, und die daraus entstehende Ueberwältigung des Erhaltungstriebes, wenigst in den Anfän- gen und ersteren Fortgängen der Spannung, von den Einflüssen der menschlichen Freythä- tigkeit abhängig sey. Haben doch die menschlichen Leiden im- die
Erſter Abſchnitt. nie auf die Wahrſcheinlichkeit, oder wenigſtauf die Moͤglichkeit kommender Errettung hinzuſehen. Allein eben dieſes beweiſet ja, daß es nicht eigentlich die Leiden ſind, die den Trieb zur Selbſterhaltung in dir uͤber- waͤltigen, ſondern daß die Partheylichkeit deines Herzens die Vorſtellungen von der Groͤße der Leiden ſo hoch ſpannen kann, daß ſie den Trieb zur Selbſterhaltung unterdruͤ- cken. Man mag nun das Reich der menſch- lichen Freythaͤtigkeit erweitern oder verengen, wie man will: ſo kann doch kein ruhiger, helldenkender Verſtand daran zweifeln, daß die Ueberſpannung der Vorſtellungen, und die daraus entſtehende Ueberwaͤltigung des Erhaltungstriebes, wenigſt in den Anfaͤn- gen und erſteren Fortgaͤngen der Spannung, von den Einfluͤſſen der menſchlichen Freythaͤ- tigkeit abhaͤngig ſey. Haben doch die menſchlichen Leiden im- die
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Erſter Abſchnitt.
nie auf die Wahrſcheinlichkeit, oder wenigſt
auf die Moͤglichkeit kommender Errettung
hinzuſehen. Allein eben dieſes beweiſet ja,
daß es nicht eigentlich die Leiden ſind, die
den Trieb zur Selbſterhaltung in dir uͤber-
waͤltigen, ſondern daß die Partheylichkeit
deines Herzens die Vorſtellungen von der
Groͤße der Leiden ſo hoch ſpannen kann, daß
ſie den Trieb zur Selbſterhaltung unterdruͤ-
cken. Man mag nun das Reich der menſch-
lichen Freythaͤtigkeit erweitern oder verengen,
wie man will: ſo kann doch kein ruhiger,
helldenkender Verſtand daran zweifeln, daß
die Ueberſpannung der Vorſtellungen, und
die daraus entſtehende Ueberwaͤltigung des
Erhaltungstriebes, wenigſt in den Anfaͤn-
gen und erſteren Fortgaͤngen der Spannung,
von den Einfluͤſſen der menſchlichen Freythaͤ-
tigkeit abhaͤngig ſey.
Haben doch die menſchlichen Leiden im-
mer zweyerley Seiten: an einer hangen
große Laſten, die die Leiden groß, und
wohl gar unertraͤglich machen, an der an-
dern ſind brauchbare Handheben feſtgemacht,
die
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