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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Gründe wider den Selbstmord.

"Unternimm das Wichtigste nicht in
der Stunde der Verwirrung -- harre
nur noch eine kleine Weile: Zeit und die
kältere Ueberlegung werden dir das Le-
ben wieder erträglich, und liebenswerth
machen."

Die Vernunft ist es nie, die zum
Selbstmord rätht, wie Moses mit seinem
Scharfsinn, und mit seiner Darstellungs-
gabe beweiset , und das ist viel gesagt

für
zweifelten. Empfinde alle Schmach des be-
trogenen Liebhabers, die Reue des Treulo-
sen, und die schreckliche Greuel des Verfüh-
rers in ihrem weitesten Umfange. Noch mehr!
Laß sie alle in entsetzlicher Vermischung über
ein einziges Haupt ausgegossen seyn. Wie
nun? Bleibt dem Elenden kein anderer Trost,
als Gift und Dolch? Wenn der Verstockte
auch gegenwärtig seine Brust allen Trostgrün-
den verschließt, wenn die Vernunft, die Freund-
schaft, die ganze Natur, die Gottheit selbst
itzt tauben Ohren predigt; wird die Zeit nicht
den heilsamen Staub der Vergessenheit über
seine Wunde streuen? Wird die Zukunft ihn
nicht ganz umbilden, und in eine Sphäre
von ruhigen Empfindungen setzen, in welcher
er den gegenwärtigen Sturm von ferne be-
trachten wird? Gesetzt, er läugnet die Vor-
sehung, er läugnet die Güte Gottes, die alles,
Euphra-
A 5
Gruͤnde wider den Selbſtmord.

„Unternimm das Wichtigſte nicht in
der Stunde der Verwirrung — harre
nur noch eine kleine Weile: Zeit und die
kaͤltere Ueberlegung werden dir das Le-
ben wieder ertraͤglich, und liebenswerth
machen.„

Die Vernunft iſt es nie, die zum
Selbſtmord raͤtht, wie Moſes mit ſeinem
Scharfſinn, und mit ſeiner Darſtellungs-
gabe beweiſet , und das iſt viel geſagt

fuͤr
zweifelten. Empfinde alle Schmach des be-
trogenen Liebhabers, die Reue des Treulo-
ſen, und die ſchreckliche Greuel des Verfuͤh-
rers in ihrem weiteſten Umfange. Noch mehr!
Laß ſie alle in entſetzlicher Vermiſchung uͤber
ein einziges Haupt ausgegoſſen ſeyn. Wie
nun? Bleibt dem Elenden kein anderer Troſt,
als Gift und Dolch? Wenn der Verſtockte
auch gegenwaͤrtig ſeine Bruſt allen Troſtgruͤn-
den verſchließt, wenn die Vernunft, die Freund-
ſchaft, die ganze Natur, die Gottheit ſelbſt
itzt tauben Ohren predigt; wird die Zeit nicht
den heilſamen Staub der Vergeſſenheit uͤber
ſeine Wunde ſtreuen? Wird die Zukunft ihn
nicht ganz umbilden, und in eine Sphaͤre
von ruhigen Empfindungen ſetzen, in welcher
er den gegenwaͤrtigen Sturm von ferne be-
trachten wird? Geſetzt, er laͤugnet die Vor-
ſehung, er laͤugnet die Guͤte Gottes, die alles,
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[9/0021] Gruͤnde wider den Selbſtmord. „Unternimm das Wichtigſte nicht in der Stunde der Verwirrung — harre nur noch eine kleine Weile: Zeit und die kaͤltere Ueberlegung werden dir das Le- ben wieder ertraͤglich, und liebenswerth machen.„ Die Vernunft iſt es nie, die zum Selbſtmord raͤtht, wie Moſes mit ſeinem Scharfſinn, und mit ſeiner Darſtellungs- gabe beweiſet (a), und das iſt viel geſagt fuͤr (a) zweifelten. Empfinde alle Schmach des be- trogenen Liebhabers, die Reue des Treulo- ſen, und die ſchreckliche Greuel des Verfuͤh- rers in ihrem weiteſten Umfange. Noch mehr! Laß ſie alle in entſetzlicher Vermiſchung uͤber ein einziges Haupt ausgegoſſen ſeyn. Wie nun? Bleibt dem Elenden kein anderer Troſt, als Gift und Dolch? Wenn der Verſtockte auch gegenwaͤrtig ſeine Bruſt allen Troſtgruͤn- den verſchließt, wenn die Vernunft, die Freund- ſchaft, die ganze Natur, die Gottheit ſelbſt itzt tauben Ohren predigt; wird die Zeit nicht den heilſamen Staub der Vergeſſenheit uͤber ſeine Wunde ſtreuen? Wird die Zukunft ihn nicht ganz umbilden, und in eine Sphaͤre von ruhigen Empfindungen ſetzen, in welcher er den gegenwaͤrtigen Sturm von ferne be- trachten wird? Geſetzt, er laͤugnet die Vor- ſehung, er laͤugnet die Guͤte Gottes, die alles, Euphra- A 5

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/21>, abgerufen am 21.11.2024.