Urin hielt. Ich habe von Jugend auf Aucto- ritaeten Glauben vielleicht eher zu sehr, als zu wenig gehasst: der unverstaendige Knabe haette seinen Lehrern aufs Wort glauben sol- len: sie mussten besser wissen, was ihm gut oder schaedlich war, als er selbst. Aber das that er nicht, er wollte nicht glauben, er woll- te untersuchen. Und da theils ihm die nöthi- gen Kenntnisse zur Untersuchung fehlten, theils seine Leidenschaft sich mit ins Spiel mischte; so konnte es nicht anders kommen, er musite sich durch Trugschlüsse taeuschen. Sollten sie wohl glauben, dass ich unverstaendig genug war, zu schliessen, weil es ja nichts uner- laubtes waere, eines Menschen Hand oder Stirne zu berühren, so könnte es auch nicht uuerlaubt seyn, irgend einen andern Theil des Leibes zu betasten. Mit diesen Gedanken suchte ich mich zu beruhigen: aber alle mei- ne Ruhe war Taeuschung, mein Herz sagte mir mehr als zu laut, dass meine Lehrer wohl Recht haben könnten, dass in der Berauhrung andrer Glieder etwas sündliches liegen müsste; mein Verstand widersprach der Stim- me des Gewissens vielleicht wirklich, weil er ihr gern widersprechen wollte.
Um
Urin hielt. Ich habe von Jugend auf Aucto- ritæten Glauben vielleicht eher zu ſehr, als zu wenig gehaſst: der unverſtændige Knabe hætte ſeinen Lehrern aufs Wort glauben ſol- len: ſie muſsten beſſer wiſſen, was ihm gut oder ſchædlich war, als er ſelbſt. Aber das that er nicht, er wollte nicht glauben, er woll- te unterſuchen. Und da theils ihm die nöthi- gen Kenntniſſe zur Unterſuchung fehlten, theils ſeine Leidenſchaft ſich mit ins Spiel miſchte; ſo konnte es nicht anders kommen, er muſite ſich durch Trugſchlüſſe tæuſchen. Sollten ſie wohl glauben, daſs ich unverſtændig genug war, zu ſchlieſſen, weil es ja nichts uner- laubtes wære, eines Menſchen Hand oder Stirne zu berühren, ſo könnte es auch nicht uuerlaubt ſeyn, irgend einen andern Theil des Leibes zu betaſten. Mit dieſen Gedanken ſuchte ich mich zu beruhigen: aber alle mei- ne Ruhe war Tæuſchung, mein Herz ſagte mir mehr als zu laut, daſs meine Lehrer wohl Recht haben könnten, daſs in der Berûhrung andrer Glieder etwas ſündliches liegen müſste; mein Verſtand widerſprach der Stim- me des Gewiſſens vielleicht wirklich, weil er ihr gern widerſprechen wollte.
Um
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Urin hielt. Ich habe von Jugend auf Aucto-
ritæten Glauben vielleicht eher zu ſehr, als
zu wenig gehaſst: der unverſtændige Knabe
hætte ſeinen Lehrern aufs Wort glauben ſol-
len: ſie muſsten beſſer wiſſen, was ihm gut
oder ſchædlich war, als er ſelbſt. Aber das
that er nicht, er wollte nicht glauben, er woll-
te unterſuchen. Und da theils ihm die nöthi-
gen Kenntniſſe zur Unterſuchung fehlten, theils
ſeine Leidenſchaft ſich mit ins Spiel miſchte;
ſo konnte es nicht anders kommen, er muſite
ſich durch Trugſchlüſſe tæuſchen. Sollten ſie
wohl glauben, daſs ich unverſtændig genug
war, zu ſchlieſſen, weil es ja nichts uner-
laubtes wære, eines Menſchen Hand oder
Stirne zu berühren, ſo könnte es auch nicht
uuerlaubt ſeyn, irgend einen andern Theil des
Leibes zu betaſten. Mit dieſen Gedanken
ſuchte ich mich zu beruhigen: aber alle mei-
ne Ruhe war Tæuſchung, mein Herz ſagte
mir mehr als zu laut, daſs meine Lehrer wohl
Recht haben könnten, daſs in der Berûhrung
andrer Glieder etwas ſündliches liegen
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Salzmann, Christian Gotthilf: Ueber die heimlichen Sünden der Jugend. Leipzig, 1785, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/salzmann_suenden_1785/300>, abgerufen am 22.11.2024.
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