ihnen lieber als Gottes Wort. Man hat in manchen Häusern keine, oder aufs höchste eine, grosse, dicke und schwere Hausbibel, die niemand braucht. Vom Gebet bei und nach Tische weis man auch nichts. Die Kinder- erziehung ist erbärmlich; alberne Stubenmädchen, die den Kindern dummes Zeug vorsagen, behalten sie unter den Händen in den besten Jahren etc.
Die Freßgewohnheit der Wiener geht unglaublich weit. Sie bedaurens laut, auch Damen *), wenn sie nicht mehr essen können, beklagen eine Köchin, die gut kocht, weil sie nicht noch 25. Jahr zu leben und zu kochen hat, machen sich wieder Appetit mit Burgunder, empfehlen einander die Lebern oder andre fette Bissen, freuen sich mit grossem Geschrei über den Braten, wenn er herein- kommt, gestehen es den andern Tag ohne Umstände, daß sie gestern und schon vorgestern zu viel gegessen haben, machen fast an jedem Tische wieder einen Schmaus aus, lassen an jede Suppe, an jede Brühe so vielerlei Sachen thun, und essen überhaupt so mancherlei durcheinander **), daß es unmöglich gesund seyn kan. "Bei ihm ißt man "sehr gut", das ist ein grosser Lobspruch für ein Haus in Wien. "Seine Diners sind nicht besonders, und "der Kaffee ist gar nichts nutz", das ist das Endurtheil, das über einen Mann gesprochen werden kan. Denn
redet
*) Schrecklich ists, wie man schon die Kinder hier verwöhnt. Die größten Stücke Rindfleisch, Tockaier, Burgunder, Ofenerwein etc. alles unter einander gibt man ihnen.
**) Die Wiener machen so einfältig gekünstelte Saucen zum Rindfleisch, und an mehrere andre Speisen, daß dadurch mancher gute Bissen verdorben wird.
ihnen lieber als Gottes Wort. Man hat in manchen Haͤuſern keine, oder aufs hoͤchſte eine, groſſe, dicke und ſchwere Hausbibel, die niemand braucht. Vom Gebet bei und nach Tiſche weis man auch nichts. Die Kinder- erziehung iſt erbaͤrmlich; alberne Stubenmaͤdchen, die den Kindern dummes Zeug vorſagen, behalten ſie unter den Haͤnden in den beſten Jahren ꝛc.
Die Freßgewohnheit der Wiener geht unglaublich weit. Sie bedaurens laut, auch Damen *), wenn ſie nicht mehr eſſen koͤnnen, beklagen eine Koͤchin, die gut kocht, weil ſie nicht noch 25. Jahr zu leben und zu kochen hat, machen ſich wieder Appetit mit Burgunder, empfehlen einander die Lebern oder andre fette Biſſen, freuen ſich mit groſſem Geſchrei uͤber den Braten, wenn er herein- kommt, geſtehen es den andern Tag ohne Umſtaͤnde, daß ſie geſtern und ſchon vorgeſtern zu viel gegeſſen haben, machen faſt an jedem Tiſche wieder einen Schmaus aus, laſſen an jede Suppe, an jede Bruͤhe ſo vielerlei Sachen thun, und eſſen uͤberhaupt ſo mancherlei durcheinander **), daß es unmoͤglich geſund ſeyn kan. „Bei ihm ißt man „ſehr gut“, das iſt ein groſſer Lobſpruch fuͤr ein Haus in Wien. „Seine Diners ſind nicht beſonders, und „der Kaffee iſt gar nichts nutz“, das iſt das Endurtheil, das uͤber einen Mann geſprochen werden kan. Denn
redet
*) Schrecklich iſts, wie man ſchon die Kinder hier verwoͤhnt. Die groͤßten Stuͤcke Rindfleiſch, Tockaier, Burgunder, Ofenerwein ꝛc. alles unter einander gibt man ihnen.
**) Die Wiener machen ſo einfaͤltig gekuͤnſtelte Saucen zum Rindfleiſch, und an mehrere andre Speiſen, daß dadurch mancher gute Biſſen verdorben wird.
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Haͤuſern keine, oder aufs hoͤchſte eine, groſſe, dicke und
ſchwere Hausbibel, die niemand braucht. Vom Gebet
bei und nach Tiſche weis man auch nichts. Die Kinder-
erziehung iſt erbaͤrmlich; alberne Stubenmaͤdchen, die
den Kindern dummes Zeug vorſagen, behalten ſie unter
den Haͤnden in den beſten Jahren ꝛc.
Die Freßgewohnheit der Wiener geht unglaublich
weit. Sie bedaurens laut, auch Damen *), wenn ſie
nicht mehr eſſen koͤnnen, beklagen eine Koͤchin, die gut kocht,
weil ſie nicht noch 25. Jahr zu leben und zu kochen hat,
machen ſich wieder Appetit mit Burgunder, empfehlen
einander die Lebern oder andre fette Biſſen, freuen ſich
mit groſſem Geſchrei uͤber den Braten, wenn er herein-
kommt, geſtehen es den andern Tag ohne Umſtaͤnde,
daß ſie geſtern und ſchon vorgeſtern zu viel gegeſſen haben,
machen faſt an jedem Tiſche wieder einen Schmaus aus,
laſſen an jede Suppe, an jede Bruͤhe ſo vielerlei Sachen
thun, und eſſen uͤberhaupt ſo mancherlei durcheinander **),
daß es unmoͤglich geſund ſeyn kan. „Bei ihm ißt man
„ſehr gut“, das iſt ein groſſer Lobſpruch fuͤr ein Haus
in Wien. „Seine Diners ſind nicht beſonders, und
„der Kaffee iſt gar nichts nutz“, das iſt das Endurtheil,
das uͤber einen Mann geſprochen werden kan. Denn
redet
*) Schrecklich iſts, wie man ſchon die Kinder hier
verwoͤhnt. Die groͤßten Stuͤcke Rindfleiſch, Tockaier,
Burgunder, Ofenerwein ꝛc. alles unter einander gibt
man ihnen.
**) Die Wiener machen ſo einfaͤltig gekuͤnſtelte Saucen
zum Rindfleiſch, und an mehrere andre Speiſen, daß
dadurch mancher gute Biſſen verdorben wird.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird … [mehr]
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird dessen Reisebeschreibung veröffentlicht. Es handelt sich dabei um ein druckfertiges Manuskript aus dem Nachlass, welches Sanders Vater dem Verleger Friedrich Gotthold Jacobäer zur Verfügung stellte. Nach dem Vorbericht des Herausgebers wurden nur einige wenige Schreibfehler berichtigt (siehe dazu den Vorbericht des Herausgebers des ersten Bandes, Faksimile 0019f.).
Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 2. Leipzig, 1784, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung02_1784/548>, abgerufen am 24.11.2024.
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