Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.Menschenliebe des Erlösers. zu Hülfe kam! Wie er am Thor von Nain nicht auf dieSeite gieng, dem niederschlagenden Anblick des mensch- lichen Elends nicht auswich, alles vorher schon gesehen, überdacht und sich vorgenommen hatte, da heute die Thränen der gebeugten mütterlichen Zärtlichkeit auf dem verwelkten Gesicht des hülflosen Alters abzutrocknen, und das Volk durch so einen feyerlichen Auftritt aus seinem Schlaf zu erwecken! Er redete immer die Sprache der Natur, verstand jeden leisen Laut der Natur, und ward von allen, die noch menschliches Gefühl hat- ten, verstanden; daher flossen so viele stille Thrä- nen, die die Menschlichkeit nicht laut weinen durfte, bey seinem Tode. Ein einzigesmal stellte er sich, als wenn er auch so ein strenger Ketzermacher und Verdammer seyn wollte, wie die jüdischen Lehrer, aber man sah gleich, daß es sein Ernst nicht war. Dieser Zwang vertrug sich nicht mit seinem guten Herzen. Mit der Cananite- rin redete er zuerst, nur um einen Versuch zu machen, ob seine Jünger, die dies Weib bloß, weil es vom Abra- ham nicht abstammte, ohne Hülfe hätten gehen lassen, das Menschenfeindliche und Unartige in dieser Denkungs- art nicht fühlen würden? die scheinheilige Sprache der Heuchler. (Marci 7, 26. 27.) Aber so bald ihm die jammernde Mutter mit dem flehenden und verweinten Auge ins Gesicht sah, ihn in jeder Mine ihr gutes Zu- trauen zu ihm lesen ließ, ihm gern zugab, daß sie hier et- was wage, und nicht gleiche Rechte mit den Juden for- dern könne, ihm auch mit eben der Vergleichung, die er gebraucht hatte, fühlbar machte, daß sie ohne den recht- mäßigen Kindern das Geringste zu entziehen, nur einen kleinen Ausfluß seiner Gnade verlange, und damit zu- frieden J 3
Menſchenliebe des Erlöſers. zu Hülfe kam! Wie er am Thor von Nain nicht auf dieSeite gieng, dem niederſchlagenden Anblick des menſch- lichen Elends nicht auswich, alles vorher ſchon geſehen, überdacht und ſich vorgenommen hatte, da heute die Thränen der gebeugten mütterlichen Zärtlichkeit auf dem verwelkten Geſicht des hülfloſen Alters abzutrocknen, und das Volk durch ſo einen feyerlichen Auftritt aus ſeinem Schlaf zu erwecken! Er redete immer die Sprache der Natur, verſtand jeden leiſen Laut der Natur, und ward von allen, die noch menſchliches Gefühl hat- ten, verſtanden; daher floſſen ſo viele ſtille Thrä- nen, die die Menſchlichkeit nicht laut weinen durfte, bey ſeinem Tode. Ein einzigesmal ſtellte er ſich, als wenn er auch ſo ein ſtrenger Ketzermacher und Verdammer ſeyn wollte, wie die jüdiſchen Lehrer, aber man ſah gleich, daß es ſein Ernſt nicht war. Dieſer Zwang vertrug ſich nicht mit ſeinem guten Herzen. Mit der Cananite- rin redete er zuerſt, nur um einen Verſuch zu machen, ob ſeine Jünger, die dies Weib bloß, weil es vom Abra- ham nicht abſtammte, ohne Hülfe hätten gehen laſſen, das Menſchenfeindliche und Unartige in dieſer Denkungs- art nicht fühlen würden? die ſcheinheilige Sprache der Heuchler. (Marci 7, 26. 27.) Aber ſo bald ihm die jammernde Mutter mit dem flehenden und verweinten Auge ins Geſicht ſah, ihn in jeder Mine ihr gutes Zu- trauen zu ihm leſen ließ, ihm gern zugab, daß ſie hier et- was wage, und nicht gleiche Rechte mit den Juden for- dern könne, ihm auch mit eben der Vergleichung, die er gebraucht hatte, fühlbar machte, daß ſie ohne den recht- mäßigen Kindern das Geringſte zu entziehen, nur einen kleinen Ausfluß ſeiner Gnade verlange, und damit zu- frieden J 3
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Menſchenliebe des Erlöſers.
zu Hülfe kam! Wie er am Thor von Nain nicht auf die
Seite gieng, dem niederſchlagenden Anblick des menſch-
lichen Elends nicht auswich, alles vorher ſchon geſehen,
überdacht und ſich vorgenommen hatte, da heute die
Thränen der gebeugten mütterlichen Zärtlichkeit auf dem
verwelkten Geſicht des hülfloſen Alters abzutrocknen, und
das Volk durch ſo einen feyerlichen Auftritt aus ſeinem
Schlaf zu erwecken! Er redete immer die Sprache der
Natur, verſtand jeden leiſen Laut der Natur, und
ward von allen, die noch menſchliches Gefühl hat-
ten, verſtanden; daher floſſen ſo viele ſtille Thrä-
nen, die die Menſchlichkeit nicht laut weinen durfte, bey
ſeinem Tode. Ein einzigesmal ſtellte er ſich, als wenn
er auch ſo ein ſtrenger Ketzermacher und Verdammer
ſeyn wollte, wie die jüdiſchen Lehrer, aber man ſah gleich,
daß es ſein Ernſt nicht war. Dieſer Zwang vertrug ſich
nicht mit ſeinem guten Herzen. Mit der Cananite-
rin redete er zuerſt, nur um einen Verſuch zu machen,
ob ſeine Jünger, die dies Weib bloß, weil es vom Abra-
ham nicht abſtammte, ohne Hülfe hätten gehen laſſen,
das Menſchenfeindliche und Unartige in dieſer Denkungs-
art nicht fühlen würden? die ſcheinheilige Sprache der
Heuchler. (Marci 7, 26. 27.) Aber ſo bald ihm die
jammernde Mutter mit dem flehenden und verweinten
Auge ins Geſicht ſah, ihn in jeder Mine ihr gutes Zu-
trauen zu ihm leſen ließ, ihm gern zugab, daß ſie hier et-
was wage, und nicht gleiche Rechte mit den Juden for-
dern könne, ihm auch mit eben der Vergleichung, die er
gebraucht hatte, fühlbar machte, daß ſie ohne den recht-
mäßigen Kindern das Geringſte zu entziehen, nur einen
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