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Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.

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Gleichmüthigkeit des Erlösers.
aber nicht umwühlt -- Er hatte keine Rednerkünste,
aber er redete an das Herz, und drang überall ein, weil
ihm die Fülle seines eignen Herzens aus dem Mund
wallte, im Gesicht lag und bey der nächsten Veranlas-
sung aus den Lippen brach. Jhm stand die Sprache
des Ernsts, die Zeichen der Liebe, die Thräne der Freund-
schaft, die Wärme der Zärtlichkeit, die Mine der Theil-
nehmung, die Farbe der geheimsten Bewegung, und der
natürlichste Ausdruck des höchsten mütterlichen Gutmey-
nens zu Gebot. Er sprach wie Gott, er handelte als
Mensch, und beydes am rechten Ort. Er kannte kein
andres Mittel, sich in der Welt zu erhalten, als Gebet
und Arbeit; aber weil er alle Tage fleißig, alle Tage hei-
lig und fromm war, so kannte er auch die nagenden
Nahrungssorgen nicht, erwartete auch im Vertrauen auf
Gott von seiner allerweisesten Regierung alle seine kör-
perliche Bedürfnisse, und beruhigte sich immer bey dem
Willen Gottes, den er, als sein höchstes Gesetz, ver-
ehrte.

Anwendung
auf uns.
Christen! wenn dann noch das größte
unter allen Beyspielen einiges Ansehen bey
uns hat, so sollten wir uns, als Fremdlinge und
Pilgrime der fleischlichen Lüste enthalten, welche
wider die Ruhe und Stärke unsrer Seele streiten.

(1 Petr. 2, 11.) Leben aber nicht die meisten Menschen
unter dem traurigen Zwang ihrer tobenden Affecten?
Kommt es nicht oft manchem, der die Freuden des Chri-
stenthums nicht kennt, unglaublich vor, wie ein andrer,
ohne große Aussichten in der Welt zu haben, doch auf
ein ganzes Leben mit Ruhe und Gelassenheit hinausse-

hen

Gleichmüthigkeit des Erlöſers.
aber nicht umwühlt — Er hatte keine Rednerkünſte,
aber er redete an das Herz, und drang überall ein, weil
ihm die Fülle ſeines eignen Herzens aus dem Mund
wallte, im Geſicht lag und bey der nächſten Veranlaſ-
ſung aus den Lippen brach. Jhm ſtand die Sprache
des Ernſts, die Zeichen der Liebe, die Thräne der Freund-
ſchaft, die Wärme der Zärtlichkeit, die Mine der Theil-
nehmung, die Farbe der geheimſten Bewegung, und der
natürlichſte Ausdruck des höchſten mütterlichen Gutmey-
nens zu Gebot. Er ſprach wie Gott, er handelte als
Menſch, und beydes am rechten Ort. Er kannte kein
andres Mittel, ſich in der Welt zu erhalten, als Gebet
und Arbeit; aber weil er alle Tage fleißig, alle Tage hei-
lig und fromm war, ſo kannte er auch die nagenden
Nahrungsſorgen nicht, erwartete auch im Vertrauen auf
Gott von ſeiner allerweiſeſten Regierung alle ſeine kör-
perliche Bedürfniſſe, und beruhigte ſich immer bey dem
Willen Gottes, den er, als ſein höchſtes Geſetz, ver-
ehrte.

Anwendung
auf uns.
Chriſten! wenn dann noch das größte
unter allen Beyſpielen einiges Anſehen bey
uns hat, ſo ſollten wir uns, als Fremdlinge und
Pilgrime der fleiſchlichen Lüſte enthalten, welche
wider die Ruhe und Stärke unſrer Seele ſtreiten.

(1 Petr. 2, 11.) Leben aber nicht die meiſten Menſchen
unter dem traurigen Zwang ihrer tobenden Affecten?
Kommt es nicht oft manchem, der die Freuden des Chri-
ſtenthums nicht kennt, unglaublich vor, wie ein andrer,
ohne große Ausſichten in der Welt zu haben, doch auf
ein ganzes Leben mit Ruhe und Gelaſſenheit hinausſe-

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[252/0258] Gleichmüthigkeit des Erlöſers. aber nicht umwühlt — Er hatte keine Rednerkünſte, aber er redete an das Herz, und drang überall ein, weil ihm die Fülle ſeines eignen Herzens aus dem Mund wallte, im Geſicht lag und bey der nächſten Veranlaſ- ſung aus den Lippen brach. Jhm ſtand die Sprache des Ernſts, die Zeichen der Liebe, die Thräne der Freund- ſchaft, die Wärme der Zärtlichkeit, die Mine der Theil- nehmung, die Farbe der geheimſten Bewegung, und der natürlichſte Ausdruck des höchſten mütterlichen Gutmey- nens zu Gebot. Er ſprach wie Gott, er handelte als Menſch, und beydes am rechten Ort. Er kannte kein andres Mittel, ſich in der Welt zu erhalten, als Gebet und Arbeit; aber weil er alle Tage fleißig, alle Tage hei- lig und fromm war, ſo kannte er auch die nagenden Nahrungsſorgen nicht, erwartete auch im Vertrauen auf Gott von ſeiner allerweiſeſten Regierung alle ſeine kör- perliche Bedürfniſſe, und beruhigte ſich immer bey dem Willen Gottes, den er, als ſein höchſtes Geſetz, ver- ehrte. Chriſten! wenn dann noch das größte unter allen Beyſpielen einiges Anſehen bey uns hat, ſo ſollten wir uns, als Fremdlinge und Pilgrime der fleiſchlichen Lüſte enthalten, welche wider die Ruhe und Stärke unſrer Seele ſtreiten. (1 Petr. 2, 11.) Leben aber nicht die meiſten Menſchen unter dem traurigen Zwang ihrer tobenden Affecten? Kommt es nicht oft manchem, der die Freuden des Chri- ſtenthums nicht kennt, unglaublich vor, wie ein andrer, ohne große Ausſichten in der Welt zu haben, doch auf ein ganzes Leben mit Ruhe und Gelaſſenheit hinausſe- hen Anwendung auf uns.

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Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/258>, abgerufen am 23.06.2024.