Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.am Ende seines Lebens. Kleidung, und ihren besondern Geschmack in Vergnü-gungen andern zum Muster aufstellen wollten. Seine Würde, seine Bestimmung verlohr er aber nie aus dem Gesicht, aber oft ward er recht unwillig über die geist- lichen Tyrannen, weil durch sie so viel Freude im Men- schenleben verscheucht wird. Denn er suchte immer muntre fröhliche Leute auf, und auch da wich die Gottes- furcht nie aus seiner Brust, ein ehrwürdiger liebreicher Ernst überkleidete sanft sein Gesicht. Etliche Tage be- unruhigte ihn die Krankheit und der Tod seines Freun- des. Sah er im Geist den Rauch von Jerusalem schon aufsteigen, und die Leichen der Erschlagenen in den Gassen faulen, so drängte sich der Schmerz unaufhalt- sam hervor. Begegnete er einer Witwe, die des Mannes Grab wieder aufreissen ließ, um auch ihren letzten Sohn darein zu legen, so empfand er alles, was sympathetische Seelen dabey empfinden können, er trö- stete die Witwe, und ihr zum Gefallen ruft er all- mächtig in die verdeckten Kammern der Natur, der Tod muß die kostbare Beute wieder herausgeben. War- um bleiben denn viele Menschen so gleichgültig, wenn wieder einer neben ihnen aus der Welt geht? Warum fühlen viele gar nichts, wenn sie an den traurigen Woh- nungen der Verlassenen vorbeygehen? Ist dies die Men- schenliebe, an der wir unsern Glauben prüfen soliten? -- Kommen irgendwo arme, aber gute Leute zusammen, um die Freuden der neuen Ehe für sich, oder mit an- dern zu genießen, so setzt er sich unter seine Geschöpfe, zu seinen Unterthanen, spricht mit Munterkeit, und er- quickt sich am Reichthum der Natur -- Warum wird es T 4
am Ende ſeines Lebens. Kleidung, und ihren beſondern Geſchmack in Vergnü-gungen andern zum Muſter aufſtellen wollten. Seine Würde, ſeine Beſtimmung verlohr er aber nie aus dem Geſicht, aber oft ward er recht unwillig über die geiſt- lichen Tyrannen, weil durch ſie ſo viel Freude im Men- ſchenleben verſcheucht wird. Denn er ſuchte immer muntre fröhliche Leute auf, und auch da wich die Gottes- furcht nie aus ſeiner Bruſt, ein ehrwürdiger liebreicher Ernſt überkleidete ſanft ſein Geſicht. Etliche Tage be- unruhigte ihn die Krankheit und der Tod ſeines Freun- des. Sah er im Geiſt den Rauch von Jeruſalem ſchon aufſteigen, und die Leichen der Erſchlagenen in den Gaſſen faulen, ſo drängte ſich der Schmerz unaufhalt- ſam hervor. Begegnete er einer Witwe, die des Mannes Grab wieder aufreiſſen ließ, um auch ihren letzten Sohn darein zu legen, ſo empfand er alles, was ſympathetiſche Seelen dabey empfinden können, er trö- ſtete die Witwe, und ihr zum Gefallen ruft er all- mächtig in die verdeckten Kammern der Natur, der Tod muß die koſtbare Beute wieder herausgeben. War- um bleiben denn viele Menſchen ſo gleichgültig, wenn wieder einer neben ihnen aus der Welt geht? Warum fühlen viele gar nichts, wenn ſie an den traurigen Woh- nungen der Verlaſſenen vorbeygehen? Iſt dies die Men- ſchenliebe, an der wir unſern Glauben prüfen ſoliten? — Kommen irgendwo arme, aber gute Leute zuſammen, um die Freuden der neuen Ehe für ſich, oder mit an- dern zu genießen, ſo ſetzt er ſich unter ſeine Geſchöpfe, zu ſeinen Unterthanen, ſpricht mit Munterkeit, und er- quickt ſich am Reichthum der Natur — Warum wird es T 4
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0301" n="295"/><fw place="top" type="header">am Ende ſeines Lebens.</fw><lb/> Kleidung, und ihren beſondern Geſchmack in Vergnü-<lb/> gungen andern zum Muſter aufſtellen wollten. Seine<lb/> Würde, ſeine Beſtimmung verlohr er aber nie aus dem<lb/> Geſicht, aber oft ward er recht unwillig über die geiſt-<lb/> lichen Tyrannen, weil durch ſie ſo viel Freude im Men-<lb/> ſchenleben verſcheucht wird. Denn er ſuchte immer<lb/> muntre fröhliche Leute auf, und auch da wich die Gottes-<lb/> furcht nie aus ſeiner Bruſt, ein ehrwürdiger liebreicher<lb/> Ernſt überkleidete ſanft ſein Geſicht. Etliche Tage be-<lb/> unruhigte ihn die Krankheit und der Tod ſeines Freun-<lb/> des. Sah er im Geiſt den Rauch von Jeruſalem<lb/> ſchon aufſteigen, und die Leichen der Erſchlagenen in den<lb/> Gaſſen faulen, ſo drängte ſich der Schmerz unaufhalt-<lb/> ſam hervor. Begegnete er einer Witwe, die des<lb/> Mannes Grab wieder aufreiſſen ließ, um auch ihren<lb/> letzten Sohn darein zu legen, ſo empfand er alles, was<lb/> ſympathetiſche Seelen dabey empfinden können, er trö-<lb/> ſtete die Witwe, und ihr zum Gefallen ruft er all-<lb/> mächtig in die verdeckten Kammern der Natur, der<lb/> Tod muß die koſtbare Beute wieder herausgeben. War-<lb/> um bleiben denn viele Menſchen ſo gleichgültig, wenn<lb/> wieder einer neben ihnen aus der Welt geht? Warum<lb/> fühlen viele gar nichts, wenn ſie an den traurigen Woh-<lb/> nungen der Verlaſſenen vorbeygehen? Iſt dies die Men-<lb/> ſchenliebe, an der wir unſern Glauben prüfen ſoliten? —<lb/> Kommen irgendwo arme, aber gute Leute zuſammen,<lb/> um die Freuden der neuen Ehe für ſich, oder mit an-<lb/> dern zu genießen, ſo ſetzt er ſich unter ſeine Geſchöpfe,<lb/> zu ſeinen Unterthanen, ſpricht mit Munterkeit, und er-<lb/> quickt ſich am Reichthum der Natur — Warum wird<lb/> <fw place="bottom" type="sig">T 4</fw><fw place="bottom" type="catch">es</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [295/0301]
am Ende ſeines Lebens.
Kleidung, und ihren beſondern Geſchmack in Vergnü-
gungen andern zum Muſter aufſtellen wollten. Seine
Würde, ſeine Beſtimmung verlohr er aber nie aus dem
Geſicht, aber oft ward er recht unwillig über die geiſt-
lichen Tyrannen, weil durch ſie ſo viel Freude im Men-
ſchenleben verſcheucht wird. Denn er ſuchte immer
muntre fröhliche Leute auf, und auch da wich die Gottes-
furcht nie aus ſeiner Bruſt, ein ehrwürdiger liebreicher
Ernſt überkleidete ſanft ſein Geſicht. Etliche Tage be-
unruhigte ihn die Krankheit und der Tod ſeines Freun-
des. Sah er im Geiſt den Rauch von Jeruſalem
ſchon aufſteigen, und die Leichen der Erſchlagenen in den
Gaſſen faulen, ſo drängte ſich der Schmerz unaufhalt-
ſam hervor. Begegnete er einer Witwe, die des
Mannes Grab wieder aufreiſſen ließ, um auch ihren
letzten Sohn darein zu legen, ſo empfand er alles, was
ſympathetiſche Seelen dabey empfinden können, er trö-
ſtete die Witwe, und ihr zum Gefallen ruft er all-
mächtig in die verdeckten Kammern der Natur, der
Tod muß die koſtbare Beute wieder herausgeben. War-
um bleiben denn viele Menſchen ſo gleichgültig, wenn
wieder einer neben ihnen aus der Welt geht? Warum
fühlen viele gar nichts, wenn ſie an den traurigen Woh-
nungen der Verlaſſenen vorbeygehen? Iſt dies die Men-
ſchenliebe, an der wir unſern Glauben prüfen ſoliten? —
Kommen irgendwo arme, aber gute Leute zuſammen,
um die Freuden der neuen Ehe für ſich, oder mit an-
dern zu genießen, ſo ſetzt er ſich unter ſeine Geſchöpfe,
zu ſeinen Unterthanen, ſpricht mit Munterkeit, und er-
quickt ſich am Reichthum der Natur — Warum wird
es
T 4
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern:
Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |