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Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.

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Ueber den Charakter Jesu Christi.
schimmerte, blendete nicht, es war die Tugend des häus-
lichen Lebens; aber was er that, das gehörte gewiß zu
dem weisen Entwurf, den er sich selbst gezeichnet hatte.
Er holte in seinem Unterricht nie weit aus, weil er nie
seine Wissenschaft auskramen wollte, sondern immer
nur auf den Nutzen sah. Sein Herz zeigte ihm immer den
nächsten Weg, andre zu unterrichten, und ihnen unver-
merkt in die Seele zu greifen. Jn seiner Kindheit fiel
er auf einen dürren Boden, in welchem nie eine süße
Frucht aufgewachsen war, er war zwar weise, aber die
Ungeschicklichkeit der Leute in Nazareth gereichte ihm doch
zum Vorwurf. Er lebte seine Jugend im dunkelsten
Stande hin, kam kaum alle Jahre einmal in die Stadt,
duldete alle Mühseligkeiten des Handwerksstandes, gieng
den gewöhnlichen Gang des gemeinsten Menschenlebens,
und ward dreyßig Jahre alt, ehe er sich seiner Bestim-
mung widmen konnte. Und wer war er dann, als er
sich aufschloß, und die Hülle, die ihn bisher verborgen
hatte, abstreifte? Er gieng aus seines Vaters Haus,
um Lehrer, Verbesserer, Sittenrichter, Prediger, Freund
und Leiter der Armen, Arzt und Wohlthäter der Kran-
ken zu werden. Diese mühsame Beschäftigung, die in
der Welt Lasten und Lobsprüche genug hat, aber nur
höchstselten die verdiente Belohnung erhält, zog er allen
andern vor, und als er sich kaum einmal öffentlich ge-
zeigt hatte, so fiel er auch mit ganzer Seele auf seine
Arbeit, benützte mit bewundernswürdiger Treue jede Ge-
legenheit, und schärfte das Auge, um jeden günstigen
Umstand zu rechter Zeit zu entdecken. Er bot sich an,
ließ sich gerne finden, beschwerte sich nicht über die
Menge der Geschäfte, riß sich nicht los, wenn das Volk

immer

Ueber den Charakter Jeſu Chriſti.
ſchimmerte, blendete nicht, es war die Tugend des häus-
lichen Lebens; aber was er that, das gehörte gewiß zu
dem weiſen Entwurf, den er ſich ſelbſt gezeichnet hatte.
Er holte in ſeinem Unterricht nie weit aus, weil er nie
ſeine Wiſſenſchaft auskramen wollte, ſondern immer
nur auf den Nutzen ſah. Sein Herz zeigte ihm immer den
nächſten Weg, andre zu unterrichten, und ihnen unver-
merkt in die Seele zu greifen. Jn ſeiner Kindheit fiel
er auf einen dürren Boden, in welchem nie eine ſüße
Frucht aufgewachſen war, er war zwar weiſe, aber die
Ungeſchicklichkeit der Leute in Nazareth gereichte ihm doch
zum Vorwurf. Er lebte ſeine Jugend im dunkelſten
Stande hin, kam kaum alle Jahre einmal in die Stadt,
duldete alle Mühſeligkeiten des Handwerksſtandes, gieng
den gewöhnlichen Gang des gemeinſten Menſchenlebens,
und ward dreyßig Jahre alt, ehe er ſich ſeiner Beſtim-
mung widmen konnte. Und wer war er dann, als er
ſich aufſchloß, und die Hülle, die ihn bisher verborgen
hatte, abſtreifte? Er gieng aus ſeines Vaters Haus,
um Lehrer, Verbeſſerer, Sittenrichter, Prediger, Freund
und Leiter der Armen, Arzt und Wohlthäter der Kran-
ken zu werden. Dieſe mühſame Beſchäftigung, die in
der Welt Laſten und Lobſprüche genug hat, aber nur
höchſtſelten die verdiente Belohnung erhält, zog er allen
andern vor, und als er ſich kaum einmal öffentlich ge-
zeigt hatte, ſo fiel er auch mit ganzer Seele auf ſeine
Arbeit, benützte mit bewundernswürdiger Treue jede Ge-
legenheit, und ſchärfte das Auge, um jeden günſtigen
Umſtand zu rechter Zeit zu entdecken. Er bot ſich an,
ließ ſich gerne finden, beſchwerte ſich nicht über die
Menge der Geſchäfte, riß ſich nicht los, wenn das Volk

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[48/0054] Ueber den Charakter Jeſu Chriſti. ſchimmerte, blendete nicht, es war die Tugend des häus- lichen Lebens; aber was er that, das gehörte gewiß zu dem weiſen Entwurf, den er ſich ſelbſt gezeichnet hatte. Er holte in ſeinem Unterricht nie weit aus, weil er nie ſeine Wiſſenſchaft auskramen wollte, ſondern immer nur auf den Nutzen ſah. Sein Herz zeigte ihm immer den nächſten Weg, andre zu unterrichten, und ihnen unver- merkt in die Seele zu greifen. Jn ſeiner Kindheit fiel er auf einen dürren Boden, in welchem nie eine ſüße Frucht aufgewachſen war, er war zwar weiſe, aber die Ungeſchicklichkeit der Leute in Nazareth gereichte ihm doch zum Vorwurf. Er lebte ſeine Jugend im dunkelſten Stande hin, kam kaum alle Jahre einmal in die Stadt, duldete alle Mühſeligkeiten des Handwerksſtandes, gieng den gewöhnlichen Gang des gemeinſten Menſchenlebens, und ward dreyßig Jahre alt, ehe er ſich ſeiner Beſtim- mung widmen konnte. Und wer war er dann, als er ſich aufſchloß, und die Hülle, die ihn bisher verborgen hatte, abſtreifte? Er gieng aus ſeines Vaters Haus, um Lehrer, Verbeſſerer, Sittenrichter, Prediger, Freund und Leiter der Armen, Arzt und Wohlthäter der Kran- ken zu werden. Dieſe mühſame Beſchäftigung, die in der Welt Laſten und Lobſprüche genug hat, aber nur höchſtſelten die verdiente Belohnung erhält, zog er allen andern vor, und als er ſich kaum einmal öffentlich ge- zeigt hatte, ſo fiel er auch mit ganzer Seele auf ſeine Arbeit, benützte mit bewundernswürdiger Treue jede Ge- legenheit, und ſchärfte das Auge, um jeden günſtigen Umſtand zu rechter Zeit zu entdecken. Er bot ſich an, ließ ſich gerne finden, beſchwerte ſich nicht über die Menge der Geſchäfte, riß ſich nicht los, wenn das Volk immer

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Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/54>, abgerufen am 21.11.2024.