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Sanders, Daniel: Aus der Werkstatt eines Wörterbuchschreibers. Plaudereien. Berlin, 1889.

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In dem Goethe'schen Gedicht wird das geschrie-
bene Lied dem sich der Brust unwillkürlich, wenn auch
in gestammelten Lauten, entringenden entgegenge-
stellt. Das erinnert mich an ein Rückert'sches Sinn-
gedicht, aus welchem wir noch einige weitere Beleg-
stellen für das Wörterbuch ausheben und auf Zetteln
verzeichnen wollen. Das Gedicht findet sich als
Rückert's Beisteuer in dem 1840 von Dr. Heinrich
Meyer herausgegebenen Guttenbergs-Album S. 106
und lautet:

Vier Jahrhunderte sind geschwunden,
Seit du die schwarze Kunst erfunden;
Was hat sie der Welt für Gewinn gebracht?
Vers 4Den Bücherhaufen größer gemacht.
Dir mögen die Wissenschaften danken
Für die Erweitrung der Geistesschranken,
Die Weltverbreitung der Gedanken.
Vers 8Die Poesie steht gedankenvoll
Und weiß nicht, was sie sagen soll.
Als sie, statt gesungen, ward gesprochen,
War ihr der eine Fittig gebrochen;
Vers 12Als sie, statt gesprochen, ward geschrieben,
Ist im andern Fittig kein Kiel geblieben.
Nun, statt geschrieben, sie wird gedruckt,
Hat sie des Todes Krampf durchzuckt.
Vers 16Nur die Kritik
Und die Politik,

In dem Goethe’ſchen Gedicht wird das geſchrie-
bene Lied dem ſich der Bruſt unwillkürlich, wenn auch
in geſtammelten Lauten, entringenden entgegenge-
ſtellt. Das erinnert mich an ein Rückert’ſches Sinn-
gedicht, aus welchem wir noch einige weitere Beleg-
ſtellen für das Wörterbuch ausheben und auf Zetteln
verzeichnen wollen. Das Gedicht findet ſich als
Rückert’s Beiſteuer in dem 1840 von Dr. Heinrich
Meyer herausgegebenen Guttenbergs-Album S. 106
und lautet:

Vier Jahrhunderte ſind geſchwunden,
Seit du die ſchwarze Kunſt erfunden;
Was hat ſie der Welt für Gewinn gebracht?
Vers 4Den Bücherhaufen größer gemacht.
Dir mögen die Wiſſenſchaften danken
Für die Erweitrung der Geiſtesſchranken,
Die Weltverbreitung der Gedanken.
Vers 8Die Poeſie ſteht gedankenvoll
Und weiß nicht, was ſie ſagen ſoll.
Als ſie, ſtatt geſungen, ward geſprochen,
War ihr der eine Fittig gebrochen;
Vers 12Als ſie, ſtatt geſprochen, ward geſchrieben,
Iſt im andern Fittig kein Kiel geblieben.
Nun, ſtatt geſchrieben, ſie wird gedruckt,
Hat ſie des Todes Krampf durchzuckt.
Vers 16Nur die Kritik
Und die Politik,
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[36/0064] In dem Goethe’ſchen Gedicht wird das geſchrie- bene Lied dem ſich der Bruſt unwillkürlich, wenn auch in geſtammelten Lauten, entringenden entgegenge- ſtellt. Das erinnert mich an ein Rückert’ſches Sinn- gedicht, aus welchem wir noch einige weitere Beleg- ſtellen für das Wörterbuch ausheben und auf Zetteln verzeichnen wollen. Das Gedicht findet ſich als Rückert’s Beiſteuer in dem 1840 von Dr. Heinrich Meyer herausgegebenen Guttenbergs-Album S. 106 und lautet: Vier Jahrhunderte ſind geſchwunden, Seit du die ſchwarze Kunſt erfunden; Was hat ſie der Welt für Gewinn gebracht? Den Bücherhaufen größer gemacht. Dir mögen die Wiſſenſchaften danken Für die Erweitrung der Geiſtesſchranken, Die Weltverbreitung der Gedanken. Die Poeſie ſteht gedankenvoll Und weiß nicht, was ſie ſagen ſoll. Als ſie, ſtatt geſungen, ward geſprochen, War ihr der eine Fittig gebrochen; Als ſie, ſtatt geſprochen, ward geſchrieben, Iſt im andern Fittig kein Kiel geblieben. Nun, ſtatt geſchrieben, ſie wird gedruckt, Hat ſie des Todes Krampf durchzuckt. Nur die Kritik Und die Politik,

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Zitationshilfe: Sanders, Daniel: Aus der Werkstatt eines Wörterbuchschreibers. Plaudereien. Berlin, 1889, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sanders_woerterbuchschreiber_1889/64>, abgerufen am 24.11.2024.