samkeit Rechtsfälle beobachtet hat, wird leicht einse- hen, daß dieses Unternehmen deshalb fruchtlos blei- ben muß, weil es für die Erzeugung der Verschieden- heiten wirklicher Fälle schlechthin keine Gränze giebt. Auch hat man gerade in den allerneuesten Gesetzbü- chern allen Schein eines Bestrebens nach dieser mate- riellen Vollständigkeit völlig aufgegeben, ohne jedoch etwas anderes an die Stelle derselben zu setzen. Allein es giebt allerdings eine solche Vollständigkeit in anderer Art, wie sich durch einen Kunstausdruck der Geometrie klar machen läßt. In jedem Dreyeck nämlich giebt es gewisse Bestimmungen, aus deren Verbindung zugleich alle übrige mit Nothwendigkeit folgen: durch diese, z. B. durch zwey Seiten und den zwischenliegenden Winkel, ist das Dreyeck gegeben. Auf ähnliche Weise hat jeder Theil unsres Rechts solche Stücke, wodurch die übrigen gegeben sind: wir können sie die leitenden Grundsätze nennen. Diese heraus zu fühlen, und von ihnen ausgehend den in- nern Zusammenhang und die Art der Verwandtschaft aller juristischen Begriffe und Sätze zu erkennen, ge- hört eben zu den schwersten Aufgaben unsrer Wissen- schaft, ja es ist eigentlich dasjenige, was unsrer Ar- beit den wissenschaftlichen Character giebt. Entsteht nun das Gesetzbuch in einer Zeit, welche dieser Kunst nicht mächtig ist, so sind folgende Uebel ganz unver- meidlich. Die Rechtspflege wird scheinbar durch das Gesetzbuch, in der That aber durch etwas anderes,
ſamkeit Rechtsfälle beobachtet hat, wird leicht einſe- hen, daß dieſes Unternehmen deshalb fruchtlos blei- ben muß, weil es für die Erzeugung der Verſchieden- heiten wirklicher Fälle ſchlechthin keine Gränze giebt. Auch hat man gerade in den allerneueſten Geſetzbü- chern allen Schein eines Beſtrebens nach dieſer mate- riellen Vollſtändigkeit völlig aufgegeben, ohne jedoch etwas anderes an die Stelle derſelben zu ſetzen. Allein es giebt allerdings eine ſolche Vollſtändigkeit in anderer Art, wie ſich durch einen Kunſtausdruck der Geometrie klar machen läßt. In jedem Dreyeck nämlich giebt es gewiſſe Beſtimmungen, aus deren Verbindung zugleich alle übrige mit Nothwendigkeit folgen: durch dieſe, z. B. durch zwey Seiten und den zwiſchenliegenden Winkel, iſt das Dreyeck gegeben. Auf ähnliche Weiſe hat jeder Theil unſres Rechts ſolche Stücke, wodurch die übrigen gegeben ſind: wir können ſie die leitenden Grundſätze nennen. Dieſe heraus zu fühlen, und von ihnen ausgehend den in- nern Zuſammenhang und die Art der Verwandtſchaft aller juriſtiſchen Begriffe und Sätze zu erkennen, ge- hört eben zu den ſchwerſten Aufgaben unſrer Wiſſen- ſchaft, ja es iſt eigentlich dasjenige, was unſrer Ar- beit den wiſſenſchaftlichen Character giebt. Entſteht nun das Geſetzbuch in einer Zeit, welche dieſer Kunſt nicht mächtig iſt, ſo ſind folgende Uebel ganz unver- meidlich. Die Rechtspflege wird ſcheinbar durch das Geſetzbuch, in der That aber durch etwas anderes,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0032"n="22"/>ſamkeit Rechtsfälle beobachtet hat, wird leicht einſe-<lb/>
hen, daß dieſes Unternehmen deshalb fruchtlos blei-<lb/>
ben muß, weil es für die Erzeugung der Verſchieden-<lb/>
heiten wirklicher Fälle ſchlechthin keine Gränze giebt.<lb/>
Auch hat man gerade in den allerneueſten Geſetzbü-<lb/>
chern allen Schein eines Beſtrebens nach dieſer mate-<lb/>
riellen Vollſtändigkeit völlig aufgegeben, ohne jedoch<lb/>
etwas anderes an die Stelle derſelben zu ſetzen.<lb/>
Allein es giebt allerdings eine ſolche Vollſtändigkeit<lb/>
in anderer Art, wie ſich durch einen Kunſtausdruck<lb/>
der Geometrie klar machen läßt. In jedem Dreyeck<lb/>
nämlich giebt es gewiſſe Beſtimmungen, aus deren<lb/>
Verbindung zugleich alle übrige mit Nothwendigkeit<lb/>
folgen: durch dieſe, z. B. durch zwey Seiten und den<lb/>
zwiſchenliegenden Winkel, iſt das Dreyeck <hirendition="#g">gegeben</hi>.<lb/>
Auf ähnliche Weiſe hat jeder Theil unſres Rechts<lb/>ſolche Stücke, wodurch die übrigen gegeben ſind: wir<lb/>
können ſie die leitenden Grundſätze nennen. Dieſe<lb/>
heraus zu fühlen, und von ihnen ausgehend den in-<lb/>
nern Zuſammenhang und die Art der Verwandtſchaft<lb/>
aller juriſtiſchen Begriffe und Sätze zu erkennen, ge-<lb/>
hört eben zu den ſchwerſten Aufgaben unſrer Wiſſen-<lb/>ſchaft, ja es iſt eigentlich dasjenige, was unſrer Ar-<lb/>
beit den wiſſenſchaftlichen Character giebt. Entſteht<lb/>
nun das Geſetzbuch in einer Zeit, welche dieſer Kunſt<lb/>
nicht mächtig iſt, ſo ſind folgende Uebel ganz unver-<lb/>
meidlich. Die Rechtspflege wird ſcheinbar durch das<lb/>
Geſetzbuch, in der That aber durch etwas anderes,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[22/0032]
ſamkeit Rechtsfälle beobachtet hat, wird leicht einſe-
hen, daß dieſes Unternehmen deshalb fruchtlos blei-
ben muß, weil es für die Erzeugung der Verſchieden-
heiten wirklicher Fälle ſchlechthin keine Gränze giebt.
Auch hat man gerade in den allerneueſten Geſetzbü-
chern allen Schein eines Beſtrebens nach dieſer mate-
riellen Vollſtändigkeit völlig aufgegeben, ohne jedoch
etwas anderes an die Stelle derſelben zu ſetzen.
Allein es giebt allerdings eine ſolche Vollſtändigkeit
in anderer Art, wie ſich durch einen Kunſtausdruck
der Geometrie klar machen läßt. In jedem Dreyeck
nämlich giebt es gewiſſe Beſtimmungen, aus deren
Verbindung zugleich alle übrige mit Nothwendigkeit
folgen: durch dieſe, z. B. durch zwey Seiten und den
zwiſchenliegenden Winkel, iſt das Dreyeck gegeben.
Auf ähnliche Weiſe hat jeder Theil unſres Rechts
ſolche Stücke, wodurch die übrigen gegeben ſind: wir
können ſie die leitenden Grundſätze nennen. Dieſe
heraus zu fühlen, und von ihnen ausgehend den in-
nern Zuſammenhang und die Art der Verwandtſchaft
aller juriſtiſchen Begriffe und Sätze zu erkennen, ge-
hört eben zu den ſchwerſten Aufgaben unſrer Wiſſen-
ſchaft, ja es iſt eigentlich dasjenige, was unſrer Ar-
beit den wiſſenſchaftlichen Character giebt. Entſteht
nun das Geſetzbuch in einer Zeit, welche dieſer Kunſt
nicht mächtig iſt, ſo ſind folgende Uebel ganz unver-
meidlich. Die Rechtspflege wird ſcheinbar durch das
Geſetzbuch, in der That aber durch etwas anderes,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_gesetzgebung_1814/32>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.