Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.§. 14. Wissenschaftliches Recht. unaufhaltsam hervorgeht. Wie wichtig und heilsam dieseformelle Rückwirkung der Wissenschaft auf das Recht selbst seyn kann, ist auf den ersten Blick einleuchtend; allein sie ist auch nicht ohne Gefahren. Schon in früher Zeit versuchten es die Römischen Juristen, für die Be- handlung vieler Rechtsverhältnisse allgemeine Formeln aufzustellen, die sich durch Tradition fortpflanzten, und die zu großem und dauerndem Ansehen gelangten; Gajus besonders hat uns viele derselben aufbewahrt. Allein sie selbst (und mit ihren Worten Justinian) machen auf die Gefahr der unbedingten Hingebung an dieselben aufmerk- sam (b), und geben ihr Verhältniß dahin an, daß sie als Versuche, das Recht aufzufassen, und seinen Inhalt zu concentriren, nicht als Grundlage desselben betrachtet wer- den müßten (c). In neueren Zeiten ist diese formelle Rückwirkung viel ausgebreiteter, mannichfaltiger und mäch- tiger geworden, und darin eben liegt die große Gefahr bey der Abfassung eines umfassenden Gesetzbuchs, durch (b) L. 202 de R. J. (50. 17) "Omnis definitio in jure civili periculosa est: parum (rarum) est enim, ut non subverti pos- sit." (c) L. 1 de R. J. (50. 17)
"Regula est, quae rem quae est breviter enarrat. Non (ut) ex regula jus sumatur, sed (ut) ex jure quod est regula fiat ... quae, simul cum in aliquo vi- tiata est, perdit officium suum." Das heißt: der zu Liebe wir nie- mals irgend eine, für sich wohl- begründete, concrete Bestimmung aufopfern müssen. Hier ist also die Anerkennung von Ausnahmen neben der Regel an ihrer Stelle, ja das, was wir hier Ausnahme nennen, ist eigentlich nur die Anerkennung einer unvollkomm- nen Regelfassung. Eine andere Natur haben die in Form all- gemeiner Regeln gefaßten ge- setzlichen Vorschriften, neben wel- chen wir mit der Zulassung von Ausnahmen behutsamer seyn müssen. §. 14. Wiſſenſchaftliches Recht. unaufhaltſam hervorgeht. Wie wichtig und heilſam dieſeformelle Rückwirkung der Wiſſenſchaft auf das Recht ſelbſt ſeyn kann, iſt auf den erſten Blick einleuchtend; allein ſie iſt auch nicht ohne Gefahren. Schon in früher Zeit verſuchten es die Römiſchen Juriſten, für die Be- handlung vieler Rechtsverhältniſſe allgemeine Formeln aufzuſtellen, die ſich durch Tradition fortpflanzten, und die zu großem und dauerndem Anſehen gelangten; Gajus beſonders hat uns viele derſelben aufbewahrt. Allein ſie ſelbſt (und mit ihren Worten Juſtinian) machen auf die Gefahr der unbedingten Hingebung an dieſelben aufmerk- ſam (b), und geben ihr Verhältniß dahin an, daß ſie als Verſuche, das Recht aufzufaſſen, und ſeinen Inhalt zu concentriren, nicht als Grundlage deſſelben betrachtet wer- den müßten (c). In neueren Zeiten iſt dieſe formelle Rückwirkung viel ausgebreiteter, mannichfaltiger und mäch- tiger geworden, und darin eben liegt die große Gefahr bey der Abfaſſung eines umfaſſenden Geſetzbuchs, durch (b) L. 202 de R. J. (50. 17) „Omnis definitio in jure civili periculosa est: parum (rarum) est enim, ut non subverti pos- sit.” (c) L. 1 de R. J. (50. 17)
„Regula est, quae rem quae est breviter enarrat. Non (ut) ex regula jus sumatur, sed (ut) ex jure quod est regula fiat … quae, simul cum in aliquo vi- tiata est, perdit officium suum.” Das heißt: der zu Liebe wir nie- mals irgend eine, für ſich wohl- begründete, concrete Beſtimmung aufopfern müſſen. Hier iſt alſo die Anerkennung von Ausnahmen neben der Regel an ihrer Stelle, ja das, was wir hier Ausnahme nennen, iſt eigentlich nur die Anerkennung einer unvollkomm- nen Regelfaſſung. Eine andere Natur haben die in Form all- gemeiner Regeln gefaßten ge- ſetzlichen Vorſchriften, neben wel- chen wir mit der Zulaſſung von Ausnahmen behutſamer ſeyn müſſen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0103" n="47"/><fw place="top" type="header">§. 14. Wiſſenſchaftliches Recht.</fw><lb/> unaufhaltſam hervorgeht. Wie wichtig und heilſam dieſe<lb/> formelle Rückwirkung der Wiſſenſchaft auf das Recht<lb/> ſelbſt ſeyn kann, iſt auf den erſten Blick einleuchtend;<lb/> allein ſie iſt auch nicht ohne Gefahren. Schon in früher<lb/> Zeit verſuchten es die Römiſchen Juriſten, für die Be-<lb/> handlung vieler Rechtsverhältniſſe allgemeine Formeln<lb/> aufzuſtellen, die ſich durch Tradition fortpflanzten, und<lb/> die zu großem und dauerndem Anſehen gelangten; Gajus<lb/> beſonders hat uns viele derſelben aufbewahrt. Allein ſie<lb/> ſelbſt (und mit ihren Worten Juſtinian) machen auf die<lb/> Gefahr der unbedingten Hingebung an dieſelben aufmerk-<lb/> ſam <note place="foot" n="(b)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">L.</hi> 202 <hi rendition="#i">de R. J.</hi> (50. 17)<lb/> „Omnis definitio in jure civili<lb/> periculosa est: parum (rarum)<lb/> est enim, ut non subverti pos-<lb/> sit.”</hi></note>, und geben ihr Verhältniß dahin an, daß ſie als<lb/> Verſuche, das Recht aufzufaſſen, und ſeinen Inhalt zu<lb/> concentriren, nicht als Grundlage deſſelben betrachtet wer-<lb/> den müßten <note place="foot" n="(c)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">L.</hi> 1 <hi rendition="#i">de R. J.</hi> (50. 17)<lb/> „Regula est, quae rem quae<lb/> est breviter enarrat. Non (ut)<lb/> ex regula jus sumatur, sed (ut)<lb/> ex jure quod est regula fiat …<lb/> quae, simul cum in aliquo vi-<lb/> tiata est, perdit officium suum.”</hi><lb/> Das heißt: der zu Liebe wir nie-<lb/> mals irgend eine, für ſich wohl-<lb/> begründete, concrete Beſtimmung<lb/> aufopfern müſſen. Hier iſt alſo<lb/> die Anerkennung von Ausnahmen<lb/> neben der Regel an ihrer Stelle,<lb/> ja das, was wir hier Ausnahme<lb/> nennen, iſt eigentlich nur die<lb/> Anerkennung einer unvollkomm-<lb/> nen Regelfaſſung. Eine andere<lb/> Natur haben die in Form all-<lb/> gemeiner Regeln gefaßten ge-<lb/> ſetzlichen Vorſchriften, neben wel-<lb/> chen wir mit der Zulaſſung<lb/> von Ausnahmen behutſamer ſeyn<lb/> müſſen.</note>. In neueren Zeiten iſt dieſe formelle<lb/> Rückwirkung viel ausgebreiteter, mannichfaltiger und mäch-<lb/> tiger geworden, und darin eben liegt die große Gefahr<lb/> bey der Abfaſſung eines umfaſſenden Geſetzbuchs, durch<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [47/0103]
§. 14. Wiſſenſchaftliches Recht.
unaufhaltſam hervorgeht. Wie wichtig und heilſam dieſe
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ſelbſt ſeyn kann, iſt auf den erſten Blick einleuchtend;
allein ſie iſt auch nicht ohne Gefahren. Schon in früher
Zeit verſuchten es die Römiſchen Juriſten, für die Be-
handlung vieler Rechtsverhältniſſe allgemeine Formeln
aufzuſtellen, die ſich durch Tradition fortpflanzten, und
die zu großem und dauerndem Anſehen gelangten; Gajus
beſonders hat uns viele derſelben aufbewahrt. Allein ſie
ſelbſt (und mit ihren Worten Juſtinian) machen auf die
Gefahr der unbedingten Hingebung an dieſelben aufmerk-
ſam (b), und geben ihr Verhältniß dahin an, daß ſie als
Verſuche, das Recht aufzufaſſen, und ſeinen Inhalt zu
concentriren, nicht als Grundlage deſſelben betrachtet wer-
den müßten (c). In neueren Zeiten iſt dieſe formelle
Rückwirkung viel ausgebreiteter, mannichfaltiger und mäch-
tiger geworden, und darin eben liegt die große Gefahr
bey der Abfaſſung eines umfaſſenden Geſetzbuchs, durch
(b) L. 202 de R. J. (50. 17)
„Omnis definitio in jure civili
periculosa est: parum (rarum)
est enim, ut non subverti pos-
sit.”
(c) L. 1 de R. J. (50. 17)
„Regula est, quae rem quae
est breviter enarrat. Non (ut)
ex regula jus sumatur, sed (ut)
ex jure quod est regula fiat …
quae, simul cum in aliquo vi-
tiata est, perdit officium suum.”
Das heißt: der zu Liebe wir nie-
mals irgend eine, für ſich wohl-
begründete, concrete Beſtimmung
aufopfern müſſen. Hier iſt alſo
die Anerkennung von Ausnahmen
neben der Regel an ihrer Stelle,
ja das, was wir hier Ausnahme
nennen, iſt eigentlich nur die
Anerkennung einer unvollkomm-
nen Regelfaſſung. Eine andere
Natur haben die in Form all-
gemeiner Regeln gefaßten ge-
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chen wir mit der Zulaſſung
von Ausnahmen behutſamer ſeyn
müſſen.
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