Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 30. Ansichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortsetzung.
worden. Es soll entweder die Rede seyn von der bloßen
Abschaffung eines Gesetzes durch Nichtgebrauch (desuetudo),
oder von der Verdrängung desselben durch ein Gewohn-
heitsrecht, welches eine andere Regel an die Stelle setze
(consuetudo obrogatoria). Die letzte sey immer unbedenk-
lich erlaubt, die erste aber gänzlich zu verwerfen (n). --
Dieser Unterschied jedoch ist zuerst durch die angeführte
Stelle des Codex auch nicht einmal scheinbar begründet,
da diese, wenn man sie buchstäblich nehmen will, beide
Fälle gleichmäßig verwirft: denn eine Gewohnheit, die
eine neue Regel aufstellt, z. B. die Strafe des Gesetzes
erhöht oder vermindert, überwindet ja eben so gut das
Gesetz als eine solche, die das Strafgesetz blos aufhebt,
indem sie die bisher strafbare Handlung straflos macht.
Auch in dem Wesen des Gewohnheitsrechts liegt kein
Grund für diese Unterscheidung. Freylich kann sich hinter
den Ausdruck desuetudo Etwas verstecken, das gar nicht
Gewohnheitsrecht ist, nämlich die Nichtanwendung eines
Gesetzes einen langen Zeitraum hindurch, weil gerade kein
Fall der Anwendung vorgekommen war. In einer solchen
Unterlassung kann sich keine Rechtsüberzeugung offenbart
haben, also kann auch darin kein Gewohnheitsrecht liegen.
Dieses kann vielmehr nur dann angenommen werden, wenn

(n) Die ausführliche Verthei-
digung dieser Meynung ist der
Zweck von: Schweitzer de de-
suetudine Lips.
1801. Für die-
selbe Ansicht erklärt sich: (Hüb-
ner
) Berichtigungen und Zusätze
zu Höpfner S. 159. -- Die rich-
tige Ansicht ist sehr befriedigend
dargestellt von Puchta Gewohn-
heitsrecht II. S. 199 fg.
13*

§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
worden. Es ſoll entweder die Rede ſeyn von der bloßen
Abſchaffung eines Geſetzes durch Nichtgebrauch (desuetudo),
oder von der Verdrängung deſſelben durch ein Gewohn-
heitsrecht, welches eine andere Regel an die Stelle ſetze
(consuetudo obrogatoria). Die letzte ſey immer unbedenk-
lich erlaubt, die erſte aber gänzlich zu verwerfen (n). —
Dieſer Unterſchied jedoch iſt zuerſt durch die angeführte
Stelle des Codex auch nicht einmal ſcheinbar begründet,
da dieſe, wenn man ſie buchſtäblich nehmen will, beide
Fälle gleichmäßig verwirft: denn eine Gewohnheit, die
eine neue Regel aufſtellt, z. B. die Strafe des Geſetzes
erhöht oder vermindert, überwindet ja eben ſo gut das
Geſetz als eine ſolche, die das Strafgeſetz blos aufhebt,
indem ſie die bisher ſtrafbare Handlung ſtraflos macht.
Auch in dem Weſen des Gewohnheitsrechts liegt kein
Grund für dieſe Unterſcheidung. Freylich kann ſich hinter
den Ausdruck desuetudo Etwas verſtecken, das gar nicht
Gewohnheitsrecht iſt, nämlich die Nichtanwendung eines
Geſetzes einen langen Zeitraum hindurch, weil gerade kein
Fall der Anwendung vorgekommen war. In einer ſolchen
Unterlaſſung kann ſich keine Rechtsüberzeugung offenbart
haben, alſo kann auch darin kein Gewohnheitsrecht liegen.
Dieſes kann vielmehr nur dann angenommen werden, wenn

(n) Die ausführliche Verthei-
digung dieſer Meynung iſt der
Zweck von: Schweitzer de de-
suetudine Lips.
1801. Für die-
ſelbe Anſicht erklärt ſich: (Hüb-
ner
) Berichtigungen und Zuſätze
zu Höpfner S. 159. — Die rich-
tige Anſicht iſt ſehr befriedigend
dargeſtellt von Puchta Gewohn-
heitsrecht II. S. 199 fg.
13*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0251" n="195"/><fw place="top" type="header">§. 30. An&#x017F;ichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fort&#x017F;etzung.</fw><lb/>
worden. Es &#x017F;oll entweder die Rede &#x017F;eyn von der bloßen<lb/>
Ab&#x017F;chaffung eines Ge&#x017F;etzes durch Nichtgebrauch <hi rendition="#aq">(desuetudo)</hi>,<lb/>
oder von der Verdrängung de&#x017F;&#x017F;elben durch ein Gewohn-<lb/>
heitsrecht, welches eine andere Regel an die Stelle &#x017F;etze<lb/><hi rendition="#aq">(consuetudo obrogatoria).</hi> Die letzte &#x017F;ey immer unbedenk-<lb/>
lich erlaubt, die er&#x017F;te aber gänzlich zu verwerfen <note place="foot" n="(n)">Die ausführliche Verthei-<lb/>
digung die&#x017F;er Meynung i&#x017F;t der<lb/>
Zweck von: <hi rendition="#aq"><hi rendition="#k">Schweitzer</hi> de de-<lb/>
suetudine Lips.</hi> 1801. Für die-<lb/>
&#x017F;elbe An&#x017F;icht erklärt &#x017F;ich: (<hi rendition="#g">Hüb-<lb/>
ner</hi>) Berichtigungen und Zu&#x017F;ätze<lb/>
zu Höpfner S. 159. &#x2014; Die rich-<lb/>
tige An&#x017F;icht i&#x017F;t &#x017F;ehr befriedigend<lb/>
darge&#x017F;tellt von <hi rendition="#g">Puchta</hi> Gewohn-<lb/>
heitsrecht <hi rendition="#aq">II.</hi> S. 199 fg.</note>. &#x2014;<lb/>
Die&#x017F;er Unter&#x017F;chied jedoch i&#x017F;t zuer&#x017F;t durch die angeführte<lb/>
Stelle des Codex auch nicht einmal &#x017F;cheinbar begründet,<lb/>
da die&#x017F;e, wenn man &#x017F;ie buch&#x017F;täblich nehmen will, beide<lb/>
Fälle gleichmäßig verwirft: denn eine Gewohnheit, die<lb/>
eine neue Regel auf&#x017F;tellt, z. B. die Strafe des Ge&#x017F;etzes<lb/>
erhöht oder vermindert, <hi rendition="#g">überwindet</hi> ja eben &#x017F;o gut das<lb/>
Ge&#x017F;etz als eine &#x017F;olche, die das Strafge&#x017F;etz blos aufhebt,<lb/>
indem &#x017F;ie die bisher &#x017F;trafbare Handlung &#x017F;traflos macht.<lb/>
Auch in dem We&#x017F;en des Gewohnheitsrechts liegt kein<lb/>
Grund für die&#x017F;e Unter&#x017F;cheidung. Freylich kann &#x017F;ich hinter<lb/>
den Ausdruck <hi rendition="#aq">desuetudo</hi> Etwas ver&#x017F;tecken, das gar nicht<lb/>
Gewohnheitsrecht i&#x017F;t, nämlich die Nichtanwendung eines<lb/>
Ge&#x017F;etzes einen langen Zeitraum hindurch, weil gerade kein<lb/>
Fall der Anwendung vorgekommen war. In einer &#x017F;olchen<lb/>
Unterla&#x017F;&#x017F;ung kann &#x017F;ich keine Rechtsüberzeugung offenbart<lb/>
haben, al&#x017F;o kann auch darin kein Gewohnheitsrecht liegen.<lb/>
Die&#x017F;es kann vielmehr nur dann angenommen werden, wenn<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">13*</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[195/0251] §. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung. worden. Es ſoll entweder die Rede ſeyn von der bloßen Abſchaffung eines Geſetzes durch Nichtgebrauch (desuetudo), oder von der Verdrängung deſſelben durch ein Gewohn- heitsrecht, welches eine andere Regel an die Stelle ſetze (consuetudo obrogatoria). Die letzte ſey immer unbedenk- lich erlaubt, die erſte aber gänzlich zu verwerfen (n). — Dieſer Unterſchied jedoch iſt zuerſt durch die angeführte Stelle des Codex auch nicht einmal ſcheinbar begründet, da dieſe, wenn man ſie buchſtäblich nehmen will, beide Fälle gleichmäßig verwirft: denn eine Gewohnheit, die eine neue Regel aufſtellt, z. B. die Strafe des Geſetzes erhöht oder vermindert, überwindet ja eben ſo gut das Geſetz als eine ſolche, die das Strafgeſetz blos aufhebt, indem ſie die bisher ſtrafbare Handlung ſtraflos macht. Auch in dem Weſen des Gewohnheitsrechts liegt kein Grund für dieſe Unterſcheidung. Freylich kann ſich hinter den Ausdruck desuetudo Etwas verſtecken, das gar nicht Gewohnheitsrecht iſt, nämlich die Nichtanwendung eines Geſetzes einen langen Zeitraum hindurch, weil gerade kein Fall der Anwendung vorgekommen war. In einer ſolchen Unterlaſſung kann ſich keine Rechtsüberzeugung offenbart haben, alſo kann auch darin kein Gewohnheitsrecht liegen. Dieſes kann vielmehr nur dann angenommen werden, wenn (n) Die ausführliche Verthei- digung dieſer Meynung iſt der Zweck von: Schweitzer de de- suetudine Lips. 1801. Für die- ſelbe Anſicht erklärt ſich: (Hüb- ner) Berichtigungen und Zuſätze zu Höpfner S. 159. — Die rich- tige Anſicht iſt ſehr befriedigend dargeſtellt von Puchta Gewohn- heitsrecht II. S. 199 fg. 13*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/251
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/251>, abgerufen am 22.11.2024.