Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Gesetze. schaft des Gefetzes ist eine Unvollkommenheit, und es istnöthig von der Betrachtung des gesunden Zustandes aus- zugehen, um für den mangelhaften Zustand sicheren Rath zu finden. -- Eben so aber ist auf der anderen Seite jene Thätigkeit nicht etwa ausgeschlossen durch einen hohen Grad der Dunkelheit (a). Vielmehr müssen wir behaup- ten, daß namentlich den Richter, nach der allgemeinen Natur seines Amtes, die Dunkelheit eines Gesetzes niemals abhalten darf, eine bestimmte Meynung über dessen In- halt zu fassen, und darnach ein Urtheil zu sprechen. Denn auch die Thatsachen können in einem Rechtsstreit höchst zweifelhaft seyn, ohne daß deshalb der Richter sein Urtheil verweigern darf. Zwischen beiden Elementen des Urtheils (Rechtsregel und Thatsachen) ist aber in dieser Hinsicht kein wesentlicher Unterschied. Die ausdrückliche Vorschrift des Französischen Rechts also, welche dem Richter verbie- tet, wegen eines mangelnden, dunklen, oder unzulänglichen Gesetzes sein Urtheil zu verweigern (b), ist der allgemeinen Natur des Richteramts völlig angemessen. In Einem Fall jedoch ist jene freye Thätigkeit aller- (a) Der Zusammenhang dieser Meynung mit den Vorschriften des Justinianischen Rechts kann erst weiter unten klar gemacht werden. Vgl. § 48. (b) Code civil art. 4.
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze. ſchaft des Gefetzes iſt eine Unvollkommenheit, und es iſtnöthig von der Betrachtung des geſunden Zuſtandes aus- zugehen, um für den mangelhaften Zuſtand ſicheren Rath zu finden. — Eben ſo aber iſt auf der anderen Seite jene Thätigkeit nicht etwa ausgeſchloſſen durch einen hohen Grad der Dunkelheit (a). Vielmehr müſſen wir behaup- ten, daß namentlich den Richter, nach der allgemeinen Natur ſeines Amtes, die Dunkelheit eines Geſetzes niemals abhalten darf, eine beſtimmte Meynung über deſſen In- halt zu faſſen, und darnach ein Urtheil zu ſprechen. Denn auch die Thatſachen können in einem Rechtsſtreit höchſt zweifelhaft ſeyn, ohne daß deshalb der Richter ſein Urtheil verweigern darf. Zwiſchen beiden Elementen des Urtheils (Rechtsregel und Thatſachen) iſt aber in dieſer Hinſicht kein weſentlicher Unterſchied. Die ausdrückliche Vorſchrift des Franzöſiſchen Rechts alſo, welche dem Richter verbie- tet, wegen eines mangelnden, dunklen, oder unzulänglichen Geſetzes ſein Urtheil zu verweigern (b), iſt der allgemeinen Natur des Richteramts völlig angemeſſen. In Einem Fall jedoch iſt jene freye Thätigkeit aller- (a) Der Zuſammenhang dieſer Meynung mit den Vorſchriften des Juſtinianiſchen Rechts kann erſt weiter unten klar gemacht werden. Vgl. § 48. (b) Code civil art. 4.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0264" n="208"/><fw place="top" type="header">Buch <hi rendition="#aq">I.</hi> Quellen. Kap. <hi rendition="#aq">IV.</hi> Auslegung der Geſetze.</fw><lb/> ſchaft des Gefetzes iſt eine Unvollkommenheit, und es iſt<lb/> nöthig von der Betrachtung des geſunden Zuſtandes aus-<lb/> zugehen, um für den mangelhaften Zuſtand ſicheren Rath<lb/> zu finden. — Eben ſo aber iſt auf der anderen Seite<lb/> jene Thätigkeit nicht etwa ausgeſchloſſen <choice><sic>dnrch</sic><corr>durch</corr></choice> einen hohen<lb/> Grad der Dunkelheit <note place="foot" n="(a)">Der Zuſammenhang dieſer<lb/> Meynung mit den Vorſchriften<lb/> des Juſtinianiſchen Rechts kann<lb/> erſt weiter unten klar gemacht<lb/> werden. Vgl. § 48.</note>. Vielmehr müſſen wir behaup-<lb/> ten, daß namentlich den Richter, nach der allgemeinen<lb/> Natur ſeines Amtes, die Dunkelheit eines Geſetzes niemals<lb/> abhalten darf, eine beſtimmte Meynung über deſſen In-<lb/> halt zu faſſen, und darnach ein Urtheil zu ſprechen. Denn<lb/> auch die Thatſachen können in einem Rechtsſtreit höchſt<lb/> zweifelhaft ſeyn, ohne daß deshalb der Richter ſein Urtheil<lb/> verweigern darf. Zwiſchen beiden Elementen des Urtheils<lb/> (Rechtsregel und Thatſachen) iſt aber in dieſer Hinſicht<lb/> kein weſentlicher Unterſchied. Die ausdrückliche Vorſchrift<lb/> des Franzöſiſchen Rechts alſo, welche dem Richter verbie-<lb/> tet, wegen eines mangelnden, dunklen, oder unzulänglichen<lb/> Geſetzes ſein Urtheil zu verweigern <note place="foot" n="(b)"><hi rendition="#aq">Code civil art.</hi> 4.</note>, iſt der allgemeinen<lb/> Natur des Richteramts völlig angemeſſen.</p><lb/> <p>In Einem Fall jedoch iſt jene freye Thätigkeit aller-<lb/> dings ausgeſchloſſen: wenn nämlich die Auffaſſung eines<lb/> Geſetzes ſelbſt wieder Gegenſtand einer neuen Rechtsregel<lb/> geworden iſt. Iſt alſo durch ein neues Geſetz, oder auch<lb/> durch ein wahres Gewohnheitsrecht beſtimmt worden, wie<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [208/0264]
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
ſchaft des Gefetzes iſt eine Unvollkommenheit, und es iſt
nöthig von der Betrachtung des geſunden Zuſtandes aus-
zugehen, um für den mangelhaften Zuſtand ſicheren Rath
zu finden. — Eben ſo aber iſt auf der anderen Seite
jene Thätigkeit nicht etwa ausgeſchloſſen durch einen hohen
Grad der Dunkelheit (a). Vielmehr müſſen wir behaup-
ten, daß namentlich den Richter, nach der allgemeinen
Natur ſeines Amtes, die Dunkelheit eines Geſetzes niemals
abhalten darf, eine beſtimmte Meynung über deſſen In-
halt zu faſſen, und darnach ein Urtheil zu ſprechen. Denn
auch die Thatſachen können in einem Rechtsſtreit höchſt
zweifelhaft ſeyn, ohne daß deshalb der Richter ſein Urtheil
verweigern darf. Zwiſchen beiden Elementen des Urtheils
(Rechtsregel und Thatſachen) iſt aber in dieſer Hinſicht
kein weſentlicher Unterſchied. Die ausdrückliche Vorſchrift
des Franzöſiſchen Rechts alſo, welche dem Richter verbie-
tet, wegen eines mangelnden, dunklen, oder unzulänglichen
Geſetzes ſein Urtheil zu verweigern (b), iſt der allgemeinen
Natur des Richteramts völlig angemeſſen.
In Einem Fall jedoch iſt jene freye Thätigkeit aller-
dings ausgeſchloſſen: wenn nämlich die Auffaſſung eines
Geſetzes ſelbſt wieder Gegenſtand einer neuen Rechtsregel
geworden iſt. Iſt alſo durch ein neues Geſetz, oder auch
durch ein wahres Gewohnheitsrecht beſtimmt worden, wie
(a) Der Zuſammenhang dieſer
Meynung mit den Vorſchriften
des Juſtinianiſchen Rechts kann
erſt weiter unten klar gemacht
werden. Vgl. § 48.
(b) Code civil art. 4.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |