Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.§. 33. Auslegung einzelner Gesetze. Grundregeln. Berührung kommen, jenen Gedanken rein und vollständigauffassen. Dieses geschieht, indem sie sich in Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers versetzen, und dessen Thätigkeit in sich künstlich wiederholen, also das Gesetz in ihrem Denken von Neuem entstehen lassen. Das ist das Geschäft der Auslegung, die wir daher bestimmen können als die Reconstruction des dem Gesetze inwohnen- den Gedankens (a). Nur auf diese Weise ist es möglich, eine sichere und vollständige Einsicht in den Inhalt des Gesetzes zu erlangen, und nur so ist daher der Zweck des Gesetzes zu erreichen. Soweit ist die Auslegung der Gesetze von der Ausle- Das grammatische Element der Auslegung hat zum (a) Ich gebrauche den Aus-
druck Gedanke, weil ich durch ihn den geistigen Inhalt des Ge- setzes am bestimmtesten bezeich- net finde. Andere gebrauchen, nicht weniger richtig, den Aus- druck Sinn. Dagegen ist Ab- sicht zu vermeiden, weil es zwey- deutig ist: denn es kann auch auf das außer dem Inhalt des Gesetzes liegende Ziel bezogen werden, worauf das Gesetz mit- telbar einwirken will. Die Rö- mer gebrauchen abwechselnd die Ausdrücke mens und sententia. §. 33. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln. Berührung kommen, jenen Gedanken rein und vollſtändigauffaſſen. Dieſes geſchieht, indem ſie ſich in Gedanken auf den Standpunkt des Geſetzgebers verſetzen, und deſſen Thätigkeit in ſich künſtlich wiederholen, alſo das Geſetz in ihrem Denken von Neuem entſtehen laſſen. Das iſt das Geſchäft der Auslegung, die wir daher beſtimmen können als die Reconſtruction des dem Geſetze inwohnen- den Gedankens (a). Nur auf dieſe Weiſe iſt es möglich, eine ſichere und vollſtändige Einſicht in den Inhalt des Geſetzes zu erlangen, und nur ſo iſt daher der Zweck des Geſetzes zu erreichen. Soweit iſt die Auslegung der Geſetze von der Ausle- Das grammatiſche Element der Auslegung hat zum (a) Ich gebrauche den Aus-
druck Gedanke, weil ich durch ihn den geiſtigen Inhalt des Ge- ſetzes am beſtimmteſten bezeich- net finde. Andere gebrauchen, nicht weniger richtig, den Aus- druck Sinn. Dagegen iſt Ab- ſicht zu vermeiden, weil es zwey- deutig iſt: denn es kann auch auf das außer dem Inhalt des Geſetzes liegende Ziel bezogen werden, worauf das Geſetz mit- telbar einwirken will. Die Rö- mer gebrauchen abwechſelnd die Ausdrücke mens und sententia. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0269" n="213"/><fw place="top" type="header">§. 33. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln.</fw><lb/> Berührung kommen, jenen Gedanken rein und vollſtändig<lb/> auffaſſen. Dieſes geſchieht, indem ſie ſich in Gedanken<lb/> auf den Standpunkt des Geſetzgebers verſetzen, und deſſen<lb/> Thätigkeit in ſich künſtlich wiederholen, alſo das Geſetz<lb/> in ihrem Denken von Neuem entſtehen laſſen. Das iſt<lb/> das Geſchäft der Auslegung, die wir daher beſtimmen<lb/> können als die Reconſtruction des dem Geſetze inwohnen-<lb/> den Gedankens <note place="foot" n="(a)">Ich gebrauche den Aus-<lb/> druck <hi rendition="#g">Gedanke</hi>, weil ich durch<lb/> ihn den geiſtigen Inhalt des Ge-<lb/> ſetzes am beſtimmteſten bezeich-<lb/> net finde. Andere gebrauchen,<lb/> nicht weniger richtig, den Aus-<lb/> druck <hi rendition="#g">Sinn</hi>. Dagegen iſt <hi rendition="#g">Ab-<lb/> ſicht</hi> zu vermeiden, weil es zwey-<lb/> deutig iſt: denn es kann auch<lb/> auf das außer dem Inhalt des<lb/> Geſetzes liegende Ziel bezogen<lb/> werden, worauf das Geſetz mit-<lb/> telbar einwirken will. Die Rö-<lb/> mer gebrauchen abwechſelnd die<lb/> Ausdrücke <hi rendition="#aq">mens</hi> und <hi rendition="#aq">sententia.</hi></note>. Nur auf dieſe Weiſe iſt es möglich,<lb/> eine ſichere und vollſtändige Einſicht in den Inhalt des<lb/> Geſetzes zu erlangen, und nur ſo iſt daher der Zweck des<lb/> Geſetzes zu erreichen.</p><lb/> <p>Soweit iſt die Auslegung der Geſetze von der Ausle-<lb/> gung jedes anderen ausgedrückten Gedankens (wie ſie z. B.<lb/> in der Philologie geübt wird) nicht verſchieden. Das<lb/> Eigenthümliche derſelben zeigt ſich aber, wenn wir ſie in<lb/> ihre Beſtandtheile zerlegen. So müſſen wir in ihr Vier<lb/> Elemente unterſcheiden: ein grammatiſches, logiſches, hiſto-<lb/> riſches und ſyſtematiſches.</p><lb/> <p>Das <hi rendition="#g">grammatiſche</hi> Element der Auslegung hat zum<lb/> Gegenſtand das Wort, welches den Übergang aus dem<lb/> Denken des Geſetzgebers in unſer Denken vermittelt. Es<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [213/0269]
§. 33. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln.
Berührung kommen, jenen Gedanken rein und vollſtändig
auffaſſen. Dieſes geſchieht, indem ſie ſich in Gedanken
auf den Standpunkt des Geſetzgebers verſetzen, und deſſen
Thätigkeit in ſich künſtlich wiederholen, alſo das Geſetz
in ihrem Denken von Neuem entſtehen laſſen. Das iſt
das Geſchäft der Auslegung, die wir daher beſtimmen
können als die Reconſtruction des dem Geſetze inwohnen-
den Gedankens (a). Nur auf dieſe Weiſe iſt es möglich,
eine ſichere und vollſtändige Einſicht in den Inhalt des
Geſetzes zu erlangen, und nur ſo iſt daher der Zweck des
Geſetzes zu erreichen.
Soweit iſt die Auslegung der Geſetze von der Ausle-
gung jedes anderen ausgedrückten Gedankens (wie ſie z. B.
in der Philologie geübt wird) nicht verſchieden. Das
Eigenthümliche derſelben zeigt ſich aber, wenn wir ſie in
ihre Beſtandtheile zerlegen. So müſſen wir in ihr Vier
Elemente unterſcheiden: ein grammatiſches, logiſches, hiſto-
riſches und ſyſtematiſches.
Das grammatiſche Element der Auslegung hat zum
Gegenſtand das Wort, welches den Übergang aus dem
Denken des Geſetzgebers in unſer Denken vermittelt. Es
(a) Ich gebrauche den Aus-
druck Gedanke, weil ich durch
ihn den geiſtigen Inhalt des Ge-
ſetzes am beſtimmteſten bezeich-
net finde. Andere gebrauchen,
nicht weniger richtig, den Aus-
druck Sinn. Dagegen iſt Ab-
ſicht zu vermeiden, weil es zwey-
deutig iſt: denn es kann auch
auf das außer dem Inhalt des
Geſetzes liegende Ziel bezogen
werden, worauf das Geſetz mit-
telbar einwirken will. Die Rö-
mer gebrauchen abwechſelnd die
Ausdrücke mens und sententia.
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