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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

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§. 33. Auslegung einzelner Gesetze. Grundregeln.

Mit diesen vier Elementen ist die Einsicht in den In-
halt des Gesetzes vollendet. Es sind also nicht vier Arten
der Auslegung, unter denen man nach Geschmack und
Belieben wählen könnte, sondern es sind verschiedene Thä-
tigkeiten, die vereinigt wirken müssen, wenn die Auslegung
gelingen soll. Nur wird freylich bald die eine, bald die
andere wichtiger seyn und sichtbarer hervortreten, so daß
nur die stete Richtung der Aufmerksamkeit nach allen die-
sen Seiten unerläßlich ist, wenngleich in vielen einzelnen
Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieser
Elemente als unnütz und schwerfällig unterlassen werden
kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung.
Von zwey Bedingungen aber hängt der Erfolg jeder Aus-
legung ab, und darin lassen sich jene vier Elemente kurz
zusammen fassen: erstlich daß wir uns die geistige Thätigkeit,
woraus der vor uns liegende einzelne Ausdruck von Gedanken
hervorgegangen ist, lebendig vergegenwärtigen: zweytens,
daß wir die Anschauung des historisch-dogmatischen Gan-
zen, woraus dieses Einzelne allein Licht erhalten kann, in
hinlänglicher Bereitschaft haben, um die Beziehungen des-
selben in dem vorliegenden Text sogleich wahrzunehmen.
Erwägen wir diese Bedingungen, so vermindert sich da-
durch das Auffallende mancher Erscheinung, die uns leicht
an der Richtigkeit unsres Urtheils irre machen könnte.
Wir finden nämlich nicht selten bey gelehrten und berühm-
ten Schriftstellern Interpretationen von fast unbegreiflicher
Verkehrtheit, während talentvolle Schüler, denen wir densel-

§. 33. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln.

Mit dieſen vier Elementen iſt die Einſicht in den In-
halt des Geſetzes vollendet. Es ſind alſo nicht vier Arten
der Auslegung, unter denen man nach Geſchmack und
Belieben wählen könnte, ſondern es ſind verſchiedene Thä-
tigkeiten, die vereinigt wirken müſſen, wenn die Auslegung
gelingen ſoll. Nur wird freylich bald die eine, bald die
andere wichtiger ſeyn und ſichtbarer hervortreten, ſo daß
nur die ſtete Richtung der Aufmerkſamkeit nach allen die-
ſen Seiten unerläßlich iſt, wenngleich in vielen einzelnen
Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieſer
Elemente als unnütz und ſchwerfällig unterlaſſen werden
kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung.
Von zwey Bedingungen aber hängt der Erfolg jeder Aus-
legung ab, und darin laſſen ſich jene vier Elemente kurz
zuſammen faſſen: erſtlich daß wir uns die geiſtige Thätigkeit,
woraus der vor uns liegende einzelne Ausdruck von Gedanken
hervorgegangen iſt, lebendig vergegenwärtigen: zweytens,
daß wir die Anſchauung des hiſtoriſch-dogmatiſchen Gan-
zen, woraus dieſes Einzelne allein Licht erhalten kann, in
hinlänglicher Bereitſchaft haben, um die Beziehungen deſ-
ſelben in dem vorliegenden Text ſogleich wahrzunehmen.
Erwägen wir dieſe Bedingungen, ſo vermindert ſich da-
durch das Auffallende mancher Erſcheinung, die uns leicht
an der Richtigkeit unſres Urtheils irre machen könnte.
Wir finden nämlich nicht ſelten bey gelehrten und berühm-
ten Schriftſtellern Interpretationen von faſt unbegreiflicher
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[215/0271] §. 33. Auslegung einzelner Geſetze. Grundregeln. Mit dieſen vier Elementen iſt die Einſicht in den In- halt des Geſetzes vollendet. Es ſind alſo nicht vier Arten der Auslegung, unter denen man nach Geſchmack und Belieben wählen könnte, ſondern es ſind verſchiedene Thä- tigkeiten, die vereinigt wirken müſſen, wenn die Auslegung gelingen ſoll. Nur wird freylich bald die eine, bald die andere wichtiger ſeyn und ſichtbarer hervortreten, ſo daß nur die ſtete Richtung der Aufmerkſamkeit nach allen die- ſen Seiten unerläßlich iſt, wenngleich in vielen einzelnen Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieſer Elemente als unnütz und ſchwerfällig unterlaſſen werden kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung. Von zwey Bedingungen aber hängt der Erfolg jeder Aus- legung ab, und darin laſſen ſich jene vier Elemente kurz zuſammen faſſen: erſtlich daß wir uns die geiſtige Thätigkeit, woraus der vor uns liegende einzelne Ausdruck von Gedanken hervorgegangen iſt, lebendig vergegenwärtigen: zweytens, daß wir die Anſchauung des hiſtoriſch-dogmatiſchen Gan- zen, woraus dieſes Einzelne allein Licht erhalten kann, in hinlänglicher Bereitſchaft haben, um die Beziehungen deſ- ſelben in dem vorliegenden Text ſogleich wahrzunehmen. Erwägen wir dieſe Bedingungen, ſo vermindert ſich da- durch das Auffallende mancher Erſcheinung, die uns leicht an der Richtigkeit unſres Urtheils irre machen könnte. Wir finden nämlich nicht ſelten bey gelehrten und berühm- ten Schriftſtellern Interpretationen von faſt unbegreiflicher Verkehrtheit, während talentvolle Schüler, denen wir denſel-

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/271>, abgerufen am 21.11.2024.