Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.
§. 50. Ansichten der Neueren. gedehnt werden. Wenn z. B. wucherliche Zinsen unterdem Schein eines Kaufcontracts oder einer Conventional- strafe versprochen werden, so nimmt man an, der Gesetz- geber habe diese Fälle nur nicht bedacht: wäre er darauf aufmerksam gemacht worden, so würde er in einem Zusatz zum Wuchergesetz auch diese Verträge verboten haben, und da er es unterlassen, müßten wir jetzt seiner Unbe- dachtsamkeit durch ausdehnende Auslegung zu Hülfe kom- men. In der That aber steht die Sache ganz anders. Wir haben nicht das Gesetz zu interpretiren, welches ganz deutlich und zureichend ist, sondern die einzelne Hand- lung (k). Wenden wir auf diese den Grundsatz der Si- mulation an, so müssen wir den scheinbaren Kauf oder Strafvertrag als einen wirklichen Zinsvertrag behandeln, und wir berichtigen also in dieser Handlung durch unser Urtheil den Buchstaben nach dem wirklichen Gedanken. Es ist im Wesentlichen dasselbe Verfahren, welches in an- deren Fällen bey Gesetzen anzuwenden ist (§ 37). Nur wird dieses Verfahren bey Rechtsgeschäften oft noch einen höheren Grad von Sicherheit mit sich führen. Denn bey Gesetzen haben wir mit einer Ungeschicklichkeit im Ge- brauch des Ausdrucks zu thun, bey Rechtsgeschäften im vorliegenden Fall mit einer unredlichen Absicht; diese aber (k) Man könnte einwenden,
die Römischen Juristen hätten die Behandlung dieses Falles wirk- lich als Gesetzauslegung angese- hen, wegen L. 64 § 1 de condit. (35. 1.), "Legem enim .. ad- juvandam interpretatione." Al- lein sie brauchen den Ausdruck interpretatio überhaupt in einem ausgedehnteren Sinn, für jedes wissenschaftliche Verfahren (§ 47 Note d). §. 50. Anſichten der Neueren. gedehnt werden. Wenn z. B. wucherliche Zinſen unterdem Schein eines Kaufcontracts oder einer Conventional- ſtrafe verſprochen werden, ſo nimmt man an, der Geſetz- geber habe dieſe Fälle nur nicht bedacht: wäre er darauf aufmerkſam gemacht worden, ſo würde er in einem Zuſatz zum Wuchergeſetz auch dieſe Verträge verboten haben, und da er es unterlaſſen, müßten wir jetzt ſeiner Unbe- dachtſamkeit durch ausdehnende Auslegung zu Hülfe kom- men. In der That aber ſteht die Sache ganz anders. Wir haben nicht das Geſetz zu interpretiren, welches ganz deutlich und zureichend iſt, ſondern die einzelne Hand- lung (k). Wenden wir auf dieſe den Grundſatz der Si- mulation an, ſo müſſen wir den ſcheinbaren Kauf oder Strafvertrag als einen wirklichen Zinsvertrag behandeln, und wir berichtigen alſo in dieſer Handlung durch unſer Urtheil den Buchſtaben nach dem wirklichen Gedanken. Es iſt im Weſentlichen daſſelbe Verfahren, welches in an- deren Fällen bey Geſetzen anzuwenden iſt (§ 37). Nur wird dieſes Verfahren bey Rechtsgeſchäften oft noch einen höheren Grad von Sicherheit mit ſich führen. Denn bey Geſetzen haben wir mit einer Ungeſchicklichkeit im Ge- brauch des Ausdrucks zu thun, bey Rechtsgeſchäften im vorliegenden Fall mit einer unredlichen Abſicht; dieſe aber (k) Man könnte einwenden,
die Römiſchen Juriſten hätten die Behandlung dieſes Falles wirk- lich als Geſetzauslegung angeſe- hen, wegen L. 64 § 1 de condit. (35. 1.), „Legem enim .. ad- juvandam interpretatione.” Al- lein ſie brauchen den Ausdruck interpretatio überhaupt in einem ausgedehnteren Sinn, für jedes wiſſenſchaftliche Verfahren (§ 47 Note d). <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0381" n="325"/><fw place="top" type="header">§. 50. Anſichten der Neueren.</fw><lb/> gedehnt werden. Wenn z. B. wucherliche Zinſen unter<lb/> dem Schein eines Kaufcontracts oder einer Conventional-<lb/> ſtrafe verſprochen werden, ſo nimmt man an, der Geſetz-<lb/> geber habe dieſe Fälle nur nicht bedacht: wäre er darauf<lb/> aufmerkſam gemacht worden, ſo würde er in einem Zuſatz<lb/> zum Wuchergeſetz auch dieſe Verträge verboten haben,<lb/> und da er es unterlaſſen, müßten wir jetzt ſeiner Unbe-<lb/> dachtſamkeit durch ausdehnende Auslegung zu Hülfe kom-<lb/> men. In der That aber ſteht die Sache ganz anders.<lb/> Wir haben nicht das Geſetz zu interpretiren, welches ganz<lb/> deutlich und zureichend iſt, ſondern die einzelne Hand-<lb/> lung <note place="foot" n="(k)">Man könnte einwenden,<lb/> die Römiſchen Juriſten hätten die<lb/> Behandlung dieſes Falles wirk-<lb/> lich als Geſetzauslegung angeſe-<lb/> hen, wegen <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">L.</hi> 64 § 1 <hi rendition="#i">de condit.</hi><lb/> (35. 1.), „<hi rendition="#i">Legem</hi> enim .. ad-<lb/> juvandam <hi rendition="#i">interpretatione.</hi>”</hi> Al-<lb/> lein ſie brauchen den Ausdruck<lb/><hi rendition="#aq">interpretatio</hi> überhaupt in einem<lb/> ausgedehnteren Sinn, für jedes<lb/> wiſſenſchaftliche Verfahren (§ 47<lb/> Note <hi rendition="#aq">d</hi>).</note>. Wenden wir auf dieſe den Grundſatz der Si-<lb/> mulation an, ſo müſſen wir den ſcheinbaren Kauf oder<lb/> Strafvertrag als einen wirklichen Zinsvertrag behandeln,<lb/> und wir berichtigen alſo in dieſer Handlung durch unſer<lb/> Urtheil den Buchſtaben nach dem wirklichen Gedanken.<lb/> Es iſt im Weſentlichen daſſelbe Verfahren, welches in an-<lb/> deren Fällen bey Geſetzen anzuwenden iſt (§ 37). Nur<lb/> wird dieſes Verfahren bey Rechtsgeſchäften oft noch einen<lb/> höheren Grad von Sicherheit mit ſich führen. Denn bey<lb/> Geſetzen haben wir mit einer Ungeſchicklichkeit im Ge-<lb/> brauch des Ausdrucks zu thun, bey Rechtsgeſchäften im<lb/> vorliegenden Fall mit einer unredlichen Abſicht; dieſe aber<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [325/0381]
§. 50. Anſichten der Neueren.
gedehnt werden. Wenn z. B. wucherliche Zinſen unter
dem Schein eines Kaufcontracts oder einer Conventional-
ſtrafe verſprochen werden, ſo nimmt man an, der Geſetz-
geber habe dieſe Fälle nur nicht bedacht: wäre er darauf
aufmerkſam gemacht worden, ſo würde er in einem Zuſatz
zum Wuchergeſetz auch dieſe Verträge verboten haben,
und da er es unterlaſſen, müßten wir jetzt ſeiner Unbe-
dachtſamkeit durch ausdehnende Auslegung zu Hülfe kom-
men. In der That aber ſteht die Sache ganz anders.
Wir haben nicht das Geſetz zu interpretiren, welches ganz
deutlich und zureichend iſt, ſondern die einzelne Hand-
lung (k). Wenden wir auf dieſe den Grundſatz der Si-
mulation an, ſo müſſen wir den ſcheinbaren Kauf oder
Strafvertrag als einen wirklichen Zinsvertrag behandeln,
und wir berichtigen alſo in dieſer Handlung durch unſer
Urtheil den Buchſtaben nach dem wirklichen Gedanken.
Es iſt im Weſentlichen daſſelbe Verfahren, welches in an-
deren Fällen bey Geſetzen anzuwenden iſt (§ 37). Nur
wird dieſes Verfahren bey Rechtsgeſchäften oft noch einen
höheren Grad von Sicherheit mit ſich führen. Denn bey
Geſetzen haben wir mit einer Ungeſchicklichkeit im Ge-
brauch des Ausdrucks zu thun, bey Rechtsgeſchäften im
vorliegenden Fall mit einer unredlichen Abſicht; dieſe aber
(k) Man könnte einwenden,
die Römiſchen Juriſten hätten die
Behandlung dieſes Falles wirk-
lich als Geſetzauslegung angeſe-
hen, wegen L. 64 § 1 de condit.
(35. 1.), „Legem enim .. ad-
juvandam interpretatione.” Al-
lein ſie brauchen den Ausdruck
interpretatio überhaupt in einem
ausgedehnteren Sinn, für jedes
wiſſenſchaftliche Verfahren (§ 47
Note d).
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| Zitationshilfe: | Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/381>, abgerufen am 24.11.2024. |
