Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
culäres Recht, neben dem gemeinsamen Volksrecht, wel- ches dadurch auf manchen Seiten ergänzt oder umgebil- det wird (a).
Wenn wir aber das Volk als eine natürliche Einheit, und insofern als den Träger des positiven Rechts betrach- ten, so dürfen wir dabei nicht blos an die darin gleich- zeitig enthaltenen Einzelnen denken; vielmehr geht jene Einheit durch die einander ablösenden Geschlechter hindurch, verbindet also die Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft. Diese stete Erhaltung des Rechts wird be- wirkt durch Tradition, und diese ist bedingt und begrün- det durch den nicht plötzlichen, sondern ganz allmäligen Wechsel der Generationen. Die hier behauptete Unab- hängigkeit des Rechts von dem Leben der gegenwärtigen Volksglieder gilt zunächst von der unveränderten Fortdauer der Rechtsregeln: eben so aber ist sie auch die Grundlage der allmäligen Fortbildung des Rechts (§ 7.), und in die- ser Beziehung müssen wir ihr eine vorzügliche Wichtigkeit zuschreiben.
Diese Ansicht, welche das individuelle Volk als Erzeu- ger und Träger des positiven oder wirklichen Rechts aner- kennt, dürfte Manchen zu beschränkt erscheinen, welche geneigt seyn möchten, vielmehr dem gemeinsamen Men- schengeist, als dem individuellen Volksgeist, jene Erzeugung zuzuschreiben. In genauerer Betrachtung aber erscheinen
(a) So kamen in Rom uralte Gewohnheitsrechte einzelner gen- tes vor. Dirksen civil. Ab- handlungen B. 2. S. 90.
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
culäres Recht, neben dem gemeinſamen Volksrecht, wel- ches dadurch auf manchen Seiten ergänzt oder umgebil- det wird (a).
Wenn wir aber das Volk als eine natürliche Einheit, und inſofern als den Träger des poſitiven Rechts betrach- ten, ſo dürfen wir dabei nicht blos an die darin gleich- zeitig enthaltenen Einzelnen denken; vielmehr geht jene Einheit durch die einander ablöſenden Geſchlechter hindurch, verbindet alſo die Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft. Dieſe ſtete Erhaltung des Rechts wird be- wirkt durch Tradition, und dieſe iſt bedingt und begrün- det durch den nicht plötzlichen, ſondern ganz allmäligen Wechſel der Generationen. Die hier behauptete Unab- hängigkeit des Rechts von dem Leben der gegenwärtigen Volksglieder gilt zunächſt von der unveränderten Fortdauer der Rechtsregeln: eben ſo aber iſt ſie auch die Grundlage der allmäligen Fortbildung des Rechts (§ 7.), und in die- ſer Beziehung müſſen wir ihr eine vorzügliche Wichtigkeit zuſchreiben.
Dieſe Anſicht, welche das individuelle Volk als Erzeu- ger und Träger des poſitiven oder wirklichen Rechts aner- kennt, dürfte Manchen zu beſchränkt erſcheinen, welche geneigt ſeyn möchten, vielmehr dem gemeinſamen Men- ſchengeiſt, als dem individuellen Volksgeiſt, jene Erzeugung zuzuſchreiben. In genauerer Betrachtung aber erſcheinen
(a) So kamen in Rom uralte Gewohnheitsrechte einzelner gen- tes vor. Dirkſen civil. Ab- handlungen B. 2. S. 90.
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Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
culäres Recht, neben dem gemeinſamen Volksrecht, wel-
ches dadurch auf manchen Seiten ergänzt oder umgebil-
det wird (a).
Wenn wir aber das Volk als eine natürliche Einheit,
und inſofern als den Träger des poſitiven Rechts betrach-
ten, ſo dürfen wir dabei nicht blos an die darin gleich-
zeitig enthaltenen Einzelnen denken; vielmehr geht jene
Einheit durch die einander ablöſenden Geſchlechter hindurch,
verbindet alſo die Gegenwart mit der Vergangenheit und
der Zukunft. Dieſe ſtete Erhaltung des Rechts wird be-
wirkt durch Tradition, und dieſe iſt bedingt und begrün-
det durch den nicht plötzlichen, ſondern ganz allmäligen
Wechſel der Generationen. Die hier behauptete Unab-
hängigkeit des Rechts von dem Leben der gegenwärtigen
Volksglieder gilt zunächſt von der unveränderten Fortdauer
der Rechtsregeln: eben ſo aber iſt ſie auch die Grundlage
der allmäligen Fortbildung des Rechts (§ 7.), und in die-
ſer Beziehung müſſen wir ihr eine vorzügliche Wichtigkeit
zuſchreiben.
Dieſe Anſicht, welche das individuelle Volk als Erzeu-
ger und Träger des poſitiven oder wirklichen Rechts aner-
kennt, dürfte Manchen zu beſchränkt erſcheinen, welche
geneigt ſeyn möchten, vielmehr dem gemeinſamen Men-
ſchengeiſt, als dem individuellen Volksgeiſt, jene Erzeugung
zuzuſchreiben. In genauerer Betrachtung aber erſcheinen
(a) So kamen in Rom uralte
Gewohnheitsrechte einzelner gen-
tes vor. Dirkſen civil. Ab-
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/76>, abgerufen am 21.11.2024.
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