bequemer und natürlicher erscheinen. So wurde nach eini- ger Zeit eine solche Regel zum Recht, die ursprünglich nicht mehr Anspruch auf Geltung hatte, als die entgegen- gesetzte Regel, und der Entstehungsgrund dieses Rechts war allein die Gewohnheit.
Sieht man nun auf die eigentlichen Grundlagen eines jeden positiven Rechts, auf den festen Kern desselben, so wird in jener Ansicht das wahre Verhältniß von Ursache und Wirkung gerade umgekehrt. Jene Grundlage hat ihr Daseyn, ihre Wirklichkeit, in dem gemeinsamen Bewußtseyn des Volks. Dieses Daseyn ist ein unsichtbares, durch welches Mittel also können wir es erkennen? Wir erken- nen es, indem es sich in äußeren Handlungen offenbart, indem es in Übung, Sitte, Gewohnheit heraustritt: an der Gleichförmigkeit einer fortgesetzten, also dauernden Handlungsweise erkennen wir seine gemeinsame, dem blo- ßen Zufall entgegengesetzte Wurzel, den Volksglauben. So ist also die Gewohnheit das Kennzeichen des positiven Rechts, nicht dessen Entstehungsgrund. Dennoch hat auch jener Irrthum, welcher die Gewohnheit zum Entstehungs- grund macht, einen wahren Bestandtheil, der nur auf sein rechtes Maaß zurückgeführt werden muß. Es giebt näm- lich außer jenen im Volksbewußtseyn allgemein anerkann- ten und unzweifelhaften Grundlagen des positiven Rechts gar manche in's Einzelne gehende Bestimmungen, welche an sich ein weniger sicheres Daseyn haben; sie können ein solches dadurch erlangen, daß sie durch öftere Übung dem
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§. 12. Gewohnheitsrecht.
bequemer und natürlicher erſcheinen. So wurde nach eini- ger Zeit eine ſolche Regel zum Recht, die urſprünglich nicht mehr Anſpruch auf Geltung hatte, als die entgegen- geſetzte Regel, und der Entſtehungsgrund dieſes Rechts war allein die Gewohnheit.
Sieht man nun auf die eigentlichen Grundlagen eines jeden poſitiven Rechts, auf den feſten Kern deſſelben, ſo wird in jener Anſicht das wahre Verhältniß von Urſache und Wirkung gerade umgekehrt. Jene Grundlage hat ihr Daſeyn, ihre Wirklichkeit, in dem gemeinſamen Bewußtſeyn des Volks. Dieſes Daſeyn iſt ein unſichtbares, durch welches Mittel alſo können wir es erkennen? Wir erken- nen es, indem es ſich in äußeren Handlungen offenbart, indem es in Übung, Sitte, Gewohnheit heraustritt: an der Gleichförmigkeit einer fortgeſetzten, alſo dauernden Handlungsweiſe erkennen wir ſeine gemeinſame, dem blo- ßen Zufall entgegengeſetzte Wurzel, den Volksglauben. So iſt alſo die Gewohnheit das Kennzeichen des poſitiven Rechts, nicht deſſen Entſtehungsgrund. Dennoch hat auch jener Irrthum, welcher die Gewohnheit zum Entſtehungs- grund macht, einen wahren Beſtandtheil, der nur auf ſein rechtes Maaß zurückgeführt werden muß. Es giebt näm- lich außer jenen im Volksbewußtſeyn allgemein anerkann- ten und unzweifelhaften Grundlagen des poſitiven Rechts gar manche in’s Einzelne gehende Beſtimmungen, welche an ſich ein weniger ſicheres Daſeyn haben; ſie können ein ſolches dadurch erlangen, daß ſie durch öftere Übung dem
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§. 12. Gewohnheitsrecht.
bequemer und natürlicher erſcheinen. So wurde nach eini-
ger Zeit eine ſolche Regel zum Recht, die urſprünglich
nicht mehr Anſpruch auf Geltung hatte, als die entgegen-
geſetzte Regel, und der Entſtehungsgrund dieſes Rechts
war allein die Gewohnheit.
Sieht man nun auf die eigentlichen Grundlagen eines
jeden poſitiven Rechts, auf den feſten Kern deſſelben, ſo
wird in jener Anſicht das wahre Verhältniß von Urſache
und Wirkung gerade umgekehrt. Jene Grundlage hat ihr
Daſeyn, ihre Wirklichkeit, in dem gemeinſamen Bewußtſeyn
des Volks. Dieſes Daſeyn iſt ein unſichtbares, durch
welches Mittel alſo können wir es erkennen? Wir erken-
nen es, indem es ſich in äußeren Handlungen offenbart,
indem es in Übung, Sitte, Gewohnheit heraustritt: an
der Gleichförmigkeit einer fortgeſetzten, alſo dauernden
Handlungsweiſe erkennen wir ſeine gemeinſame, dem blo-
ßen Zufall entgegengeſetzte Wurzel, den Volksglauben.
So iſt alſo die Gewohnheit das Kennzeichen des poſitiven
Rechts, nicht deſſen Entſtehungsgrund. Dennoch hat auch
jener Irrthum, welcher die Gewohnheit zum Entſtehungs-
grund macht, einen wahren Beſtandtheil, der nur auf ſein
rechtes Maaß zurückgeführt werden muß. Es giebt näm-
lich außer jenen im Volksbewußtſeyn allgemein anerkann-
ten und unzweifelhaften Grundlagen des poſitiven Rechts
gar manche in’s Einzelne gehende Beſtimmungen, welche
an ſich ein weniger ſicheres Daſeyn haben; ſie können ein
ſolches dadurch erlangen, daß ſie durch öftere Übung dem
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/91>, abgerufen am 24.11.2024.
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