Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen. entstehen kann. Dadurch nun wird eine Ausgleichungnöthig, die aber fast nur durch Reflexion und absichtliches, also persönliches Eingreifen mit Sicherheit zu bewirken ist (a). Diese Gründe erhalten eine besonders einleuch- tende Wichtigkeit in den Fällen, in welchen auch schon das einer gegenwärtigen Abänderung bedürftige Recht durch frühere Gesetzgebung befestigt war; denn da nun diesem die, überall wahrzunehmende, widerstehende Kraft des geschriebenen Buchstabens inwohnt, so wird dadurch die allmälig wirkende innere Fortbildung oft ganz verhin- dert, oft auf einen unbefriedigenden Grad herabgesetzt wer- den (b). Endlich treten in der Geschichte jedes Volkes Entwicklungsstufen und Zustände ein, die der Rechtserzeu- gung durch gemeinsames Volksbewußtseyn nicht mehr gün- stig sind (§ 7). Hier wird diese, unter allen Umständen (a) Stahl Philosophie des Rechts II. 1. S. 140. (b) Dieses ist der wahre Sinn
der oft misbrauchten Stelle von Göthe: Es erben sich Gesetz' und Rechte Wie eine ew'ge Krankheit fort; Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte, Und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn, Wohl- that Plage; Weh Dir, daß Du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit uns gebo- ren ist, Von dem ist leider! nie die Frage. Nicht selten ist sie so genommen worden, als sollte darin ein all- gemeiner Tadel des positiven Rechts ausgedrückt werden, und das Bedauern, daß nicht ledig- lich das Naturrecht regiere. Daß der Dichter diese Stelle in dem Zusammenhange von Gedanken, worin ich sie setze, deutlich ge- dacht habe, will ich nicht behaup- ten. Es ist aber das Vorrecht des Sehers, dasjenige unmittel- bar durch innere Anschauung her- vorzubringen, was wir Andern nur auf dem langen und mühe- vollen Wege fortschreitender Ge- dankenverbindung finden können. Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen. entſtehen kann. Dadurch nun wird eine Ausgleichungnöthig, die aber faſt nur durch Reflexion und abſichtliches, alſo perſönliches Eingreifen mit Sicherheit zu bewirken iſt (a). Dieſe Gründe erhalten eine beſonders einleuch- tende Wichtigkeit in den Fällen, in welchen auch ſchon das einer gegenwärtigen Abänderung bedürftige Recht durch frühere Geſetzgebung befeſtigt war; denn da nun dieſem die, überall wahrzunehmende, widerſtehende Kraft des geſchriebenen Buchſtabens inwohnt, ſo wird dadurch die allmälig wirkende innere Fortbildung oft ganz verhin- dert, oft auf einen unbefriedigenden Grad herabgeſetzt wer- den (b). Endlich treten in der Geſchichte jedes Volkes Entwicklungsſtufen und Zuſtände ein, die der Rechtserzeu- gung durch gemeinſames Volksbewußtſeyn nicht mehr gün- ſtig ſind (§ 7). Hier wird dieſe, unter allen Umſtänden (a) Stahl Philoſophie des Rechts II. 1. S. 140. (b) Dieſes iſt der wahre Sinn
der oft misbrauchten Stelle von Göthe: Es erben ſich Geſetz’ und Rechte Wie eine ew’ge Krankheit fort; Sie ſchleppen von Geſchlecht ſich zum Geſchlechte, Und rücken ſacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unſinn, Wohl- that Plage; Weh Dir, daß Du ein Enkel biſt! Vom Rechte, das mit uns gebo- ren iſt, Von dem iſt leider! nie die Frage. Nicht ſelten iſt ſie ſo genommen worden, als ſollte darin ein all- gemeiner Tadel des poſitiven Rechts ausgedrückt werden, und das Bedauern, daß nicht ledig- lich das Naturrecht regiere. Daß der Dichter dieſe Stelle in dem Zuſammenhange von Gedanken, worin ich ſie ſetze, deutlich ge- dacht habe, will ich nicht behaup- ten. Es iſt aber das Vorrecht des Sehers, dasjenige unmittel- bar durch innere Anſchauung her- vorzubringen, was wir Andern nur auf dem langen und mühe- vollen Wege fortſchreitender Ge- dankenverbindung finden können. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0098" n="42"/><fw place="top" type="header">Buch <hi rendition="#aq">I.</hi> Quellen. Kap. <hi rendition="#aq">II.</hi> Allg. Natur der Quellen.</fw><lb/> entſtehen kann. Dadurch nun wird eine Ausgleichung<lb/> nöthig, die aber faſt nur durch Reflexion und abſichtliches,<lb/> alſo perſönliches Eingreifen mit Sicherheit zu bewirken<lb/> iſt <note place="foot" n="(a)"><hi rendition="#g">Stahl</hi> Philoſophie des<lb/> Rechts <hi rendition="#aq">II.</hi> 1. S. 140.</note>. Dieſe Gründe erhalten eine beſonders einleuch-<lb/> tende Wichtigkeit in den Fällen, in welchen auch ſchon<lb/> das einer gegenwärtigen Abänderung bedürftige Recht<lb/> durch frühere Geſetzgebung befeſtigt war; denn da nun<lb/> dieſem die, überall wahrzunehmende, widerſtehende Kraft<lb/> des geſchriebenen Buchſtabens inwohnt, ſo wird dadurch<lb/> die allmälig wirkende innere Fortbildung oft ganz verhin-<lb/> dert, oft auf einen unbefriedigenden Grad herabgeſetzt wer-<lb/> den <note place="foot" n="(b)">Dieſes iſt der wahre Sinn<lb/> der oft misbrauchten Stelle von<lb/><hi rendition="#g">Göthe</hi>:<lb/> Es erben ſich Geſetz’ und Rechte<lb/> Wie eine ew’ge Krankheit fort;<lb/> Sie ſchleppen von Geſchlecht ſich<lb/> zum Geſchlechte,<lb/> Und rücken ſacht von Ort zu Ort.<lb/> Vernunft wird Unſinn, Wohl-<lb/> that Plage;<lb/> Weh Dir, daß Du ein Enkel biſt!<lb/> Vom Rechte, das mit uns gebo-<lb/> ren iſt,<lb/> Von dem iſt leider! nie die Frage.<lb/> Nicht ſelten iſt ſie ſo genommen<lb/> worden, als ſollte darin ein all-<lb/> gemeiner Tadel des poſitiven<lb/> Rechts ausgedrückt werden, und<lb/> das Bedauern, daß nicht ledig-<lb/> lich das Naturrecht regiere. Daß<lb/> der Dichter dieſe Stelle in dem<lb/> Zuſammenhange von Gedanken,<lb/> worin ich ſie ſetze, deutlich ge-<lb/> dacht habe, will ich nicht behaup-<lb/> ten. Es iſt aber das Vorrecht<lb/> des Sehers, dasjenige unmittel-<lb/> bar durch innere Anſchauung her-<lb/> vorzubringen, was wir Andern<lb/> nur auf dem langen und mühe-<lb/> vollen Wege fortſchreitender Ge-<lb/> dankenverbindung finden können.</note>. Endlich treten in der Geſchichte jedes Volkes<lb/> Entwicklungsſtufen und Zuſtände ein, die der Rechtserzeu-<lb/> gung durch gemeinſames Volksbewußtſeyn nicht mehr gün-<lb/> ſtig ſind (§ 7). Hier wird dieſe, unter allen Umſtänden<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [42/0098]
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
entſtehen kann. Dadurch nun wird eine Ausgleichung
nöthig, die aber faſt nur durch Reflexion und abſichtliches,
alſo perſönliches Eingreifen mit Sicherheit zu bewirken
iſt (a). Dieſe Gründe erhalten eine beſonders einleuch-
tende Wichtigkeit in den Fällen, in welchen auch ſchon
das einer gegenwärtigen Abänderung bedürftige Recht
durch frühere Geſetzgebung befeſtigt war; denn da nun
dieſem die, überall wahrzunehmende, widerſtehende Kraft
des geſchriebenen Buchſtabens inwohnt, ſo wird dadurch
die allmälig wirkende innere Fortbildung oft ganz verhin-
dert, oft auf einen unbefriedigenden Grad herabgeſetzt wer-
den (b). Endlich treten in der Geſchichte jedes Volkes
Entwicklungsſtufen und Zuſtände ein, die der Rechtserzeu-
gung durch gemeinſames Volksbewußtſeyn nicht mehr gün-
ſtig ſind (§ 7). Hier wird dieſe, unter allen Umſtänden
(a) Stahl Philoſophie des
Rechts II. 1. S. 140.
(b) Dieſes iſt der wahre Sinn
der oft misbrauchten Stelle von
Göthe:
Es erben ſich Geſetz’ und Rechte
Wie eine ew’ge Krankheit fort;
Sie ſchleppen von Geſchlecht ſich
zum Geſchlechte,
Und rücken ſacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unſinn, Wohl-
that Plage;
Weh Dir, daß Du ein Enkel biſt!
Vom Rechte, das mit uns gebo-
ren iſt,
Von dem iſt leider! nie die Frage.
Nicht ſelten iſt ſie ſo genommen
worden, als ſollte darin ein all-
gemeiner Tadel des poſitiven
Rechts ausgedrückt werden, und
das Bedauern, daß nicht ledig-
lich das Naturrecht regiere. Daß
der Dichter dieſe Stelle in dem
Zuſammenhange von Gedanken,
worin ich ſie ſetze, deutlich ge-
dacht habe, will ich nicht behaup-
ten. Es iſt aber das Vorrecht
des Sehers, dasjenige unmittel-
bar durch innere Anſchauung her-
vorzubringen, was wir Andern
nur auf dem langen und mühe-
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