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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 2. Berlin, 1840.

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Beylage III.
doch gewiß sehr nahe zu unterscheiden, ob dieser schnelle
Tod erfolge aus Mangel innerer Lebenskraft (Vitalität),
oder aus äußeren Ursachen: von dieser Unterscheidung aber
finden wir kein Wort, also war sie gewiß auch nicht im
Sinn des Gesetzgebers. -- Die Gründe, welche von den
Gegnern aus den Quellen angeführt werden, sind unge-
mein schwach, und beruhen meist auf einem augenschein-
lichen Zirkel: es wird davon noch unten, bey der Über-
sicht der Schriftsteller, die Rede seyn.

Jene Lehre entbehrt ferner selbst die Möglichkeit einer
wahren, eigentlichen Anwendung. Nicht lebensfähig, sagt
man, ist das Kind, das früher als 182 Tage nach seiner
Erzeugung geboren wird. Aber woher erfahren wir denn
den Tag der Erzeugung? Gerade weil wir ihn nicht
wissen können, haben die Römer das Zurückrechnen von
dem bekannten, gewissen Tag der Geburt vorgeschrieben.
Um aus diesem offenbaren Zirkel heraus zu kommen, ha-
ben Jene nur Ein Mittel, welches auch gewiß in ihrer
Meynung liegt. Sie müssen die Ärzte herzu rufen, und
diese müssen erklären: Das Kind sieht so unreif aus, daß
es nicht 182 Tage im Mutterleibe gewesen seyn kann,
und daraus schließen wir, daß es nicht lebensfähig ist.
Bey dieser Behandlung der Sache ist aber die Zahl der
Tage ganz unnütz in die Mitte geschoben, sie dient nur
dazu, die völlige Willkührlichkeit zu verhüllen, und es
wäre viel natürlicher, die Ärzte gleich unmittelbar erklä-
ren zu lassen: das Kind sieht so unreif aus, daß es we-

Beylage III.
doch gewiß ſehr nahe zu unterſcheiden, ob dieſer ſchnelle
Tod erfolge aus Mangel innerer Lebenskraft (Vitalität),
oder aus äußeren Urſachen: von dieſer Unterſcheidung aber
finden wir kein Wort, alſo war ſie gewiß auch nicht im
Sinn des Geſetzgebers. — Die Gründe, welche von den
Gegnern aus den Quellen angeführt werden, ſind unge-
mein ſchwach, und beruhen meiſt auf einem augenſchein-
lichen Zirkel: es wird davon noch unten, bey der Über-
ſicht der Schriftſteller, die Rede ſeyn.

Jene Lehre entbehrt ferner ſelbſt die Möglichkeit einer
wahren, eigentlichen Anwendung. Nicht lebensfähig, ſagt
man, iſt das Kind, das früher als 182 Tage nach ſeiner
Erzeugung geboren wird. Aber woher erfahren wir denn
den Tag der Erzeugung? Gerade weil wir ihn nicht
wiſſen können, haben die Römer das Zurückrechnen von
dem bekannten, gewiſſen Tag der Geburt vorgeſchrieben.
Um aus dieſem offenbaren Zirkel heraus zu kommen, ha-
ben Jene nur Ein Mittel, welches auch gewiß in ihrer
Meynung liegt. Sie müſſen die Ärzte herzu rufen, und
dieſe müſſen erklären: Das Kind ſieht ſo unreif aus, daß
es nicht 182 Tage im Mutterleibe geweſen ſeyn kann,
und daraus ſchließen wir, daß es nicht lebensfähig iſt.
Bey dieſer Behandlung der Sache iſt aber die Zahl der
Tage ganz unnütz in die Mitte geſchoben, ſie dient nur
dazu, die voͤllige Willkührlichkeit zu verhüllen, und es
wäre viel natürlicher, die Ärzte gleich unmittelbar erklä-
ren zu laſſen: das Kind ſieht ſo unreif aus, daß es we-

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[394/0408] Beylage III. doch gewiß ſehr nahe zu unterſcheiden, ob dieſer ſchnelle Tod erfolge aus Mangel innerer Lebenskraft (Vitalität), oder aus äußeren Urſachen: von dieſer Unterſcheidung aber finden wir kein Wort, alſo war ſie gewiß auch nicht im Sinn des Geſetzgebers. — Die Gründe, welche von den Gegnern aus den Quellen angeführt werden, ſind unge- mein ſchwach, und beruhen meiſt auf einem augenſchein- lichen Zirkel: es wird davon noch unten, bey der Über- ſicht der Schriftſteller, die Rede ſeyn. Jene Lehre entbehrt ferner ſelbſt die Möglichkeit einer wahren, eigentlichen Anwendung. Nicht lebensfähig, ſagt man, iſt das Kind, das früher als 182 Tage nach ſeiner Erzeugung geboren wird. Aber woher erfahren wir denn den Tag der Erzeugung? Gerade weil wir ihn nicht wiſſen können, haben die Römer das Zurückrechnen von dem bekannten, gewiſſen Tag der Geburt vorgeſchrieben. Um aus dieſem offenbaren Zirkel heraus zu kommen, ha- ben Jene nur Ein Mittel, welches auch gewiß in ihrer Meynung liegt. Sie müſſen die Ärzte herzu rufen, und dieſe müſſen erklären: Das Kind ſieht ſo unreif aus, daß es nicht 182 Tage im Mutterleibe geweſen ſeyn kann, und daraus ſchließen wir, daß es nicht lebensfähig iſt. Bey dieſer Behandlung der Sache iſt aber die Zahl der Tage ganz unnütz in die Mitte geſchoben, ſie dient nur dazu, die voͤllige Willkührlichkeit zu verhüllen, und es wäre viel natürlicher, die Ärzte gleich unmittelbar erklä- ren zu laſſen: das Kind ſieht ſo unreif aus, daß es we-

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 2. Berlin, 1840, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system02_1840/408>, abgerufen am 21.11.2024.