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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 6. Berlin, 1847.

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§. 256. Litiscontestation. Einleitung.

Unter diesen Prozeßhandlungen tritt uns zunächst das
Urtheil entgegen, durch welches jeder Rechtsstreit zur
Entscheidung, also die angebliche Rechtsverletzung entweder
zur Verneinung, oder zur Anerkennung und Ausgleichung,
gebracht werden muß. Die Frage, ob und wie das Urtheil
in den Inhalt und Umfang der Rechte selbst verändernd
einwirken kann, ist in der That unabweislich, ja sie ist
unter allen, die hier aufgeworfen werden können, die wich-
tigste; aber ausreichend ist diese Frage nicht.

Sie würde nur dann als ausreichend gelten können,
wenn es möglich wäre, jeden Rechtsstreit, sobald er vor
den Richter gebracht wird, unmittelbar durch das Urtheil
zu beendigen. Dieses ist jedoch nur in den seltensten Fäl-
len möglich. Fast immer ist Zeit, und oft sehr lange Zeit,
nöthig, damit ein unabänderliches Urtheil mit sicherer Über-
zeugung gesprochen werden könne. Gerade in dieser Zeit
aber können wichtige Umwandlungen in dem streitigen
Rechtsverhältniß eintreten, und wenn dieses geschieht, wird
oft das am Ende ausgesprochene, die Rechtsverletzung an-
erkennende, Urtheil, die Ausgleichung gar nicht, oder nur
unvollständig gewähren, wozu doch die Rechtspflege be-
stimmt ist.

Wenngleich nun diese Verzögerung des Urtheils nebst
ihren nachtheiligen Folgen mit der Ausübung des Richter-
amts unzertrennlich verbunden, also unvermeidlich ist, so
müssen wir sie dennoch als ein Übel anerkennen, welches
durch künstliche Anstalten auszugleichen unsre Aufgabe ist.


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§. 256. Litisconteſtation. Einleitung.

Unter dieſen Prozeßhandlungen tritt uns zunächſt das
Urtheil entgegen, durch welches jeder Rechtsſtreit zur
Entſcheidung, alſo die angebliche Rechtsverletzung entweder
zur Verneinung, oder zur Anerkennung und Ausgleichung,
gebracht werden muß. Die Frage, ob und wie das Urtheil
in den Inhalt und Umfang der Rechte ſelbſt verändernd
einwirken kann, iſt in der That unabweislich, ja ſie iſt
unter allen, die hier aufgeworfen werden können, die wich-
tigſte; aber ausreichend iſt dieſe Frage nicht.

Sie würde nur dann als ausreichend gelten können,
wenn es möglich wäre, jeden Rechtsſtreit, ſobald er vor
den Richter gebracht wird, unmittelbar durch das Urtheil
zu beendigen. Dieſes iſt jedoch nur in den ſeltenſten Fäl-
len möglich. Faſt immer iſt Zeit, und oft ſehr lange Zeit,
nöthig, damit ein unabänderliches Urtheil mit ſicherer Über-
zeugung geſprochen werden könne. Gerade in dieſer Zeit
aber können wichtige Umwandlungen in dem ſtreitigen
Rechtsverhältniß eintreten, und wenn dieſes geſchieht, wird
oft das am Ende ausgeſprochene, die Rechtsverletzung an-
erkennende, Urtheil, die Ausgleichung gar nicht, oder nur
unvollſtändig gewähren, wozu doch die Rechtspflege be-
ſtimmt iſt.

Wenngleich nun dieſe Verzögerung des Urtheils nebſt
ihren nachtheiligen Folgen mit der Ausübung des Richter-
amts unzertrennlich verbunden, alſo unvermeidlich iſt, ſo
müſſen wir ſie dennoch als ein Übel anerkennen, welches
durch künſtliche Anſtalten auszugleichen unſre Aufgabe iſt.


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[3/0021] §. 256. Litisconteſtation. Einleitung. Unter dieſen Prozeßhandlungen tritt uns zunächſt das Urtheil entgegen, durch welches jeder Rechtsſtreit zur Entſcheidung, alſo die angebliche Rechtsverletzung entweder zur Verneinung, oder zur Anerkennung und Ausgleichung, gebracht werden muß. Die Frage, ob und wie das Urtheil in den Inhalt und Umfang der Rechte ſelbſt verändernd einwirken kann, iſt in der That unabweislich, ja ſie iſt unter allen, die hier aufgeworfen werden können, die wich- tigſte; aber ausreichend iſt dieſe Frage nicht. Sie würde nur dann als ausreichend gelten können, wenn es möglich wäre, jeden Rechtsſtreit, ſobald er vor den Richter gebracht wird, unmittelbar durch das Urtheil zu beendigen. Dieſes iſt jedoch nur in den ſeltenſten Fäl- len möglich. Faſt immer iſt Zeit, und oft ſehr lange Zeit, nöthig, damit ein unabänderliches Urtheil mit ſicherer Über- zeugung geſprochen werden könne. Gerade in dieſer Zeit aber können wichtige Umwandlungen in dem ſtreitigen Rechtsverhältniß eintreten, und wenn dieſes geſchieht, wird oft das am Ende ausgeſprochene, die Rechtsverletzung an- erkennende, Urtheil, die Ausgleichung gar nicht, oder nur unvollſtändig gewähren, wozu doch die Rechtspflege be- ſtimmt iſt. Wenngleich nun dieſe Verzögerung des Urtheils nebſt ihren nachtheiligen Folgen mit der Ausübung des Richter- amts unzertrennlich verbunden, alſo unvermeidlich iſt, ſo müſſen wir ſie dennoch als ein Übel anerkennen, welches durch künſtliche Anſtalten auszugleichen unſre Aufgabe iſt. 1*

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 6. Berlin, 1847, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system06_1847/21>, abgerufen am 23.11.2024.