Dem Inhalt eines gesprochenen Urtheils soll kein spä- teres Urtheil widersprechen.
Auf den ersten Blick scheint diese Formel eben so, wie die oben aufgestellte ältere Formel, blos verneinend, verhin- dernd. Da indessen kein Richter die Entscheidung eines ihm vorgelegten Rechtsstreits verweigern darf, so löst sich jene Formel sogleich in diese andere auf: Wenn in einem gegenwärtigen Rechtsstreit eine Frage vorkommt, worüber schon in einem früheren Rechts- streit ein Urtheil gesprochen worden ist, so muß der neue Richter den Inhalt jenes Urtheils als wahr an- nehmen und seinem eigenen Urtheil zum Grunde legen.
In dieser Formel aber nimmt der Rechtssatz eine völlig positive Gestalt an, und ist der unmittelbare Ausdruck der Fiction der Wahrheit, die schon oben (§ 280) als der eigentliche Sinn der Rechtskraft, und als das wahre praktische Bedürfniß angegeben worden ist.
Zur Bezeichnung dieses logischen Verhältnisses beider Gestalten der Einrede, der älteren und der neueren, hat man den passenden Ausdruck angewendet: exceptio rei judicatae in ihrer negativen und ihrer positiven Function(c).
Diese wichtige Ausbildung des Rechtsinstituts ist nicht durch eine allgemeine Vorschrift (Gesetz oder Edict) bewirkt worden, wodurch etwa das ältere Institut aufgehoben oder umgebildet, das neuere eingeführt worden wäre; dazu war
(c)Keller S. 223 Note 4.
§. 281. Rechtskraft. Geſchichte.
Dem Inhalt eines geſprochenen Urtheils ſoll kein ſpä- teres Urtheil widerſprechen.
Auf den erſten Blick ſcheint dieſe Formel eben ſo, wie die oben aufgeſtellte ältere Formel, blos verneinend, verhin- dernd. Da indeſſen kein Richter die Entſcheidung eines ihm vorgelegten Rechtsſtreits verweigern darf, ſo löſt ſich jene Formel ſogleich in dieſe andere auf: Wenn in einem gegenwärtigen Rechtsſtreit eine Frage vorkommt, worüber ſchon in einem früheren Rechts- ſtreit ein Urtheil geſprochen worden iſt, ſo muß der neue Richter den Inhalt jenes Urtheils als wahr an- nehmen und ſeinem eigenen Urtheil zum Grunde legen.
In dieſer Formel aber nimmt der Rechtsſatz eine völlig poſitive Geſtalt an, und iſt der unmittelbare Ausdruck der Fiction der Wahrheit, die ſchon oben (§ 280) als der eigentliche Sinn der Rechtskraft, und als das wahre praktiſche Bedürfniß angegeben worden iſt.
Zur Bezeichnung dieſes logiſchen Verhältniſſes beider Geſtalten der Einrede, der älteren und der neueren, hat man den paſſenden Ausdruck angewendet: exceptio rei judicatae in ihrer negativen und ihrer poſitiven Function(c).
Dieſe wichtige Ausbildung des Rechtsinſtituts iſt nicht durch eine allgemeine Vorſchrift (Geſetz oder Edict) bewirkt worden, wodurch etwa das ältere Inſtitut aufgehoben oder umgebildet, das neuere eingeführt worden wäre; dazu war
(c)Keller S. 223 Note 4.
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§. 281. Rechtskraft. Geſchichte.
Dem Inhalt eines geſprochenen Urtheils ſoll kein ſpä-
teres Urtheil widerſprechen.
Auf den erſten Blick ſcheint dieſe Formel eben ſo, wie
die oben aufgeſtellte ältere Formel, blos verneinend, verhin-
dernd. Da indeſſen kein Richter die Entſcheidung eines
ihm vorgelegten Rechtsſtreits verweigern darf, ſo löſt ſich
jene Formel ſogleich in dieſe andere auf:
Wenn in einem gegenwärtigen Rechtsſtreit eine Frage
vorkommt, worüber ſchon in einem früheren Rechts-
ſtreit ein Urtheil geſprochen worden iſt, ſo muß der
neue Richter den Inhalt jenes Urtheils als wahr an-
nehmen und ſeinem eigenen Urtheil zum Grunde legen.
In dieſer Formel aber nimmt der Rechtsſatz eine völlig
poſitive Geſtalt an, und iſt der unmittelbare Ausdruck der
Fiction der Wahrheit, die ſchon oben (§ 280) als
der eigentliche Sinn der Rechtskraft, und als das wahre
praktiſche Bedürfniß angegeben worden iſt.
Zur Bezeichnung dieſes logiſchen Verhältniſſes beider
Geſtalten der Einrede, der älteren und der neueren, hat
man den paſſenden Ausdruck angewendet: exceptio rei
judicatae in ihrer negativen und ihrer poſitiven
Function (c).
Dieſe wichtige Ausbildung des Rechtsinſtituts iſt nicht
durch eine allgemeine Vorſchrift (Geſetz oder Edict) bewirkt
worden, wodurch etwa das ältere Inſtitut aufgehoben oder
umgebildet, das neuere eingeführt worden wäre; dazu war
(c) Keller S. 223 Note 4.
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 6. Berlin, 1847, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system06_1847/289>, abgerufen am 22.11.2024.
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