Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 8. Berlin, 1849.

Bild:
<< vorherige Seite

Buch III. Herrschaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
aus fehlen muß. Der einzige Fall einer möglichen Anwen-
dung wäre der, wenn etwa eine Gegend, die bisher kein
Zinsverbot gekannt hätte, einem Staate einverleibt würde,
in welchem Römisches Recht, mit dem Verbot höherer Zin-
sen, als zu 6 Prozent, gilt. Hier könnte man daran den-
ken, das angeführte transitorische Gesetz auf die in jener
Gegend geschlossenen früheren Zinsverträge anzuwenden.
Allein auch diese Anwendung würde ich als eine ungehö-
rige, blos buchstäbliche, dem Geist des Gesetzes wider-
sprechende, verwerfen müssen. Denn jedes transitorische
Gesetz, so weit es über die Gränzen bloßer Belehrung hin-
aus geht, und, so wie jenes Gesetz Justinian's, eine Rück-
wirkung anordnet, ist von streng positiver Natur, also ganz
abhängig von den Umständen und Bedürfnissen seiner Zeit,
und nicht der Ausdruck einer für alle Zeiten und Verhält-
nisse gültigen Rechtsregel. Justinian kann also die hier
erwähnte Rückwirkung verordnet haben, weil er (mit Recht
oder Unrecht) annahm, sie sey nach dem Bedürfniß seiner
Zeit nöthig oder nützlich. Wollten wir dieselbe aber jetzt
anwenden, so würden wir über den Sinn derselben hinaus-
gehen, indem wir ohne allen Grund voraussetzen müßten,
er habe diese Vorschrift auch für alle künftige Zeiten, deren
Bedürfnisse er unmöglich vorhersehen konnte, gelten lassen
wollen.

Wenngleich nun aus diesen Gründen hervorgeht, daß
wir den erwähnten Aussprüchen des Römischen Rechts die
Kraft bindender Gesetze, selbst in dem Gebiete unseres ge-

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
aus fehlen muß. Der einzige Fall einer möglichen Anwen-
dung wäre der, wenn etwa eine Gegend, die bisher kein
Zinsverbot gekannt hätte, einem Staate einverleibt würde,
in welchem Römiſches Recht, mit dem Verbot höherer Zin-
ſen, als zu 6 Prozent, gilt. Hier könnte man daran den-
ken, das angeführte tranſitoriſche Geſetz auf die in jener
Gegend geſchloſſenen früheren Zinsverträge anzuwenden.
Allein auch dieſe Anwendung würde ich als eine ungehö-
rige, blos buchſtäbliche, dem Geiſt des Geſetzes wider-
ſprechende, verwerfen müſſen. Denn jedes tranſitoriſche
Geſetz, ſo weit es über die Gränzen bloßer Belehrung hin-
aus geht, und, ſo wie jenes Geſetz Juſtinian’s, eine Rück-
wirkung anordnet, iſt von ſtreng poſitiver Natur, alſo ganz
abhängig von den Umſtänden und Bedürfniſſen ſeiner Zeit,
und nicht der Ausdruck einer für alle Zeiten und Verhält-
niſſe gültigen Rechtsregel. Juſtinian kann alſo die hier
erwähnte Rückwirkung verordnet haben, weil er (mit Recht
oder Unrecht) annahm, ſie ſey nach dem Bedürfniß ſeiner
Zeit nöthig oder nützlich. Wollten wir dieſelbe aber jetzt
anwenden, ſo würden wir über den Sinn derſelben hinaus-
gehen, indem wir ohne allen Grund vorausſetzen müßten,
er habe dieſe Vorſchrift auch für alle künftige Zeiten, deren
Bedürfniſſe er unmöglich vorherſehen konnte, gelten laſſen
wollen.

Wenngleich nun aus dieſen Gründen hervorgeht, daß
wir den erwähnten Ausſprüchen des Römiſchen Rechts die
Kraft bindender Geſetze, ſelbſt in dem Gebiete unſeres ge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0420" n="398"/><fw place="top" type="header">Buch <hi rendition="#aq">III.</hi> Herr&#x017F;chaft der Rechtsregeln. Kap. <hi rendition="#aq">II.</hi> Zeitliche Gränzen.</fw><lb/>
aus fehlen muß. Der einzige Fall einer möglichen Anwen-<lb/>
dung wäre der, wenn etwa eine Gegend, die bisher kein<lb/>
Zinsverbot gekannt hätte, einem Staate einverleibt würde,<lb/>
in welchem Römi&#x017F;ches Recht, mit dem Verbot höherer Zin-<lb/>
&#x017F;en, als zu 6 Prozent, gilt. Hier könnte man daran den-<lb/>
ken, das angeführte tran&#x017F;itori&#x017F;che Ge&#x017F;etz auf die in jener<lb/>
Gegend ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen früheren Zinsverträge anzuwenden.<lb/>
Allein auch die&#x017F;e Anwendung würde ich als eine ungehö-<lb/>
rige, blos buch&#x017F;täbliche, dem Gei&#x017F;t des Ge&#x017F;etzes wider-<lb/>
&#x017F;prechende, verwerfen mü&#x017F;&#x017F;en. Denn jedes tran&#x017F;itori&#x017F;che<lb/>
Ge&#x017F;etz, &#x017F;o weit es über die Gränzen bloßer Belehrung hin-<lb/>
aus geht, und, &#x017F;o wie jenes Ge&#x017F;etz Ju&#x017F;tinian&#x2019;s, eine Rück-<lb/>
wirkung anordnet, i&#x017F;t von &#x017F;treng po&#x017F;itiver Natur, al&#x017F;o ganz<lb/>
abhängig von den Um&#x017F;tänden und Bedürfni&#x017F;&#x017F;en &#x017F;einer Zeit,<lb/>
und nicht der Ausdruck einer für alle Zeiten und Verhält-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e gültigen Rechtsregel. Ju&#x017F;tinian kann al&#x017F;o die hier<lb/>
erwähnte Rückwirkung verordnet haben, weil er (mit Recht<lb/>
oder Unrecht) annahm, &#x017F;ie &#x017F;ey nach dem Bedürfniß &#x017F;einer<lb/>
Zeit nöthig oder nützlich. Wollten wir die&#x017F;elbe aber jetzt<lb/>
anwenden, &#x017F;o würden wir über den Sinn der&#x017F;elben hinaus-<lb/>
gehen, indem wir ohne allen Grund voraus&#x017F;etzen müßten,<lb/>
er habe die&#x017F;e Vor&#x017F;chrift auch für alle künftige Zeiten, deren<lb/>
Bedürfni&#x017F;&#x017F;e er unmöglich vorher&#x017F;ehen konnte, gelten la&#x017F;&#x017F;en<lb/>
wollen.</p><lb/>
            <p>Wenngleich nun aus die&#x017F;en Gründen hervorgeht, daß<lb/>
wir den erwähnten Aus&#x017F;prüchen des Römi&#x017F;chen Rechts die<lb/>
Kraft bindender Ge&#x017F;etze, &#x017F;elb&#x017F;t in dem Gebiete un&#x017F;eres ge-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[398/0420] Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen. aus fehlen muß. Der einzige Fall einer möglichen Anwen- dung wäre der, wenn etwa eine Gegend, die bisher kein Zinsverbot gekannt hätte, einem Staate einverleibt würde, in welchem Römiſches Recht, mit dem Verbot höherer Zin- ſen, als zu 6 Prozent, gilt. Hier könnte man daran den- ken, das angeführte tranſitoriſche Geſetz auf die in jener Gegend geſchloſſenen früheren Zinsverträge anzuwenden. Allein auch dieſe Anwendung würde ich als eine ungehö- rige, blos buchſtäbliche, dem Geiſt des Geſetzes wider- ſprechende, verwerfen müſſen. Denn jedes tranſitoriſche Geſetz, ſo weit es über die Gränzen bloßer Belehrung hin- aus geht, und, ſo wie jenes Geſetz Juſtinian’s, eine Rück- wirkung anordnet, iſt von ſtreng poſitiver Natur, alſo ganz abhängig von den Umſtänden und Bedürfniſſen ſeiner Zeit, und nicht der Ausdruck einer für alle Zeiten und Verhält- niſſe gültigen Rechtsregel. Juſtinian kann alſo die hier erwähnte Rückwirkung verordnet haben, weil er (mit Recht oder Unrecht) annahm, ſie ſey nach dem Bedürfniß ſeiner Zeit nöthig oder nützlich. Wollten wir dieſelbe aber jetzt anwenden, ſo würden wir über den Sinn derſelben hinaus- gehen, indem wir ohne allen Grund vorausſetzen müßten, er habe dieſe Vorſchrift auch für alle künftige Zeiten, deren Bedürfniſſe er unmöglich vorherſehen konnte, gelten laſſen wollen. Wenngleich nun aus dieſen Gründen hervorgeht, daß wir den erwähnten Ausſprüchen des Römiſchen Rechts die Kraft bindender Geſetze, ſelbſt in dem Gebiete unſeres ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system08_1849
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system08_1849/420
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 8. Berlin, 1849, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system08_1849/420>, abgerufen am 22.11.2024.