Begleiten Sie mich itzt, werthe Leser und Leserinnen, in die schwarzen Kerker der Unglück- lichen, die des richtigen Gebrauchs ihrer Seelen- vermögen beraubt im tiefsten Elende leben, und selbst ihr Elend nicht einmal empfinden.
Sehen Sie hier eine Reihe von Wahnsin- nigen. Jch bin der Monarch des Erdbodens, sagt ein Schneider, der Geist zeugt es in mir! Nein, fällt sein Nachbar ihm ins Wort, ich muß das Gegentheil wissen, da ich der Sohn des Gei- stes bin! Das Maul zu -- so hör' ich die Mu- sik der Sphären -- schreyt ein Dritter. Seht ihr nicht diesen Geist da, der mir alles offenbaret, was gewesen ist und was seyn wird? -- Seht ihr da diese verklärten Leiber? -- Jch trage das Schwerdt Gedeons, folgt Kinder! Wir sind unverwundbar. -- Und ich, versetzt ein andrer, brauche nur ein Wort zu sagen, gleich werde ich die größten Heere zerstreuen! Seyd ihr nicht, fragt jener, der Apostel, der aus Tran- sylvanien kommen soll? -- Schon lange gehn wir an den Gestaden hin und her, ihn zu empfan- gen. Jch bin gekommen zur Bekehrung der Ju- den; und ich, schreyt ein andrer, halte eine pro- phetische Schule *).
Wahn und Täuschung sind die Empfindun- gen der Unsinnigen; was da wirklich ist, fühlen
sie
*) Meister über die Schwärmerey. 1. 166.
Begleiten Sie mich itzt, werthe Leſer und Leſerinnen, in die ſchwarzen Kerker der Ungluͤck- lichen, die des richtigen Gebrauchs ihrer Seelen- vermoͤgen beraubt im tiefſten Elende leben, und ſelbſt ihr Elend nicht einmal empfinden.
Sehen Sie hier eine Reihe von Wahnſin- nigen. Jch bin der Monarch des Erdbodens, ſagt ein Schneider, der Geiſt zeugt es in mir! Nein, faͤllt ſein Nachbar ihm ins Wort, ich muß das Gegentheil wiſſen, da ich der Sohn des Gei- ſtes bin! Das Maul zu — ſo hoͤr' ich die Mu- ſik der Sphaͤren — ſchreyt ein Dritter. Seht ihr nicht dieſen Geiſt da, der mir alles offenbaret, was geweſen iſt und was ſeyn wird? — Seht ihr da dieſe verklaͤrten Leiber? — Jch trage das Schwerdt Gedeons, folgt Kinder! Wir ſind unverwundbar. — Und ich, verſetzt ein andrer, brauche nur ein Wort zu ſagen, gleich werde ich die groͤßten Heere zerſtreuen! Seyd ihr nicht, fragt jener, der Apoſtel, der aus Tran- ſylvanien kommen ſoll? — Schon lange gehn wir an den Geſtaden hin und her, ihn zu empfan- gen. Jch bin gekommen zur Bekehrung der Ju- den; und ich, ſchreyt ein andrer, halte eine pro- phetiſche Schule *).
Wahn und Taͤuſchung ſind die Empfindun- gen der Unſinnigen; was da wirklich iſt, fuͤhlen
ſie
*) Meiſter uͤber die Schwaͤrmerey. 1. 166.
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Begleiten Sie mich itzt, werthe Leſer und
Leſerinnen, in die ſchwarzen Kerker der Ungluͤck-
lichen, die des richtigen Gebrauchs ihrer Seelen-
vermoͤgen beraubt im tiefſten Elende leben, und
ſelbſt ihr Elend nicht einmal empfinden.
Sehen Sie hier eine Reihe von Wahnſin-
nigen. Jch bin der Monarch des Erdbodens,
ſagt ein Schneider, der Geiſt zeugt es in mir!
Nein, faͤllt ſein Nachbar ihm ins Wort, ich muß
das Gegentheil wiſſen, da ich der Sohn des Gei-
ſtes bin! Das Maul zu — ſo hoͤr' ich die Mu-
ſik der Sphaͤren — ſchreyt ein Dritter. Seht
ihr nicht dieſen Geiſt da, der mir alles offenbaret,
was geweſen iſt und was ſeyn wird? — Seht
ihr da dieſe verklaͤrten Leiber? — Jch trage
das Schwerdt Gedeons, folgt Kinder! Wir
ſind unverwundbar. — Und ich, verſetzt ein
andrer, brauche nur ein Wort zu ſagen, gleich
werde ich die groͤßten Heere zerſtreuen! Seyd
ihr nicht, fragt jener, der Apoſtel, der aus Tran-
ſylvanien kommen ſoll? — Schon lange gehn
wir an den Geſtaden hin und her, ihn zu empfan-
gen. Jch bin gekommen zur Bekehrung der Ju-
den; und ich, ſchreyt ein andrer, halte eine pro-
phetiſche Schule *).
Wahn und Taͤuſchung ſind die Empfindun-
gen der Unſinnigen; was da wirklich iſt, fuͤhlen
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*) Meiſter uͤber die Schwaͤrmerey. 1. 166.
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/190>, abgerufen am 16.02.2025.
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