Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite


Verrücktheit sind, aufweisen! O wie mancher
Seufzer mag da aus der Brust der Elenden über
stolze Eltern oder Verwandte, welche das Herz
ihres Sohns oder ihrer Tochter, aus dem Arm
der Natur reißen, und unter die unnatürlichen
Gesetze des Ranges oder Goldes schmiegen woll-
ten, emporsteigen! Wie mancher würde, wenn
er sich selbst denken und empfinden könnte, in dem
Keficht, der ihm seine Freyheit raubt, weil er das
verlor, was ihn die Freyheit zu gebrauchen lehrt,
über sich selbst seufzen, daß er durch zu häufige
Lesung weichlicher und romanhafter Schriften, sei-
ne Phantasie reizte, seinen Verstand und seine
Denkkraft zu zernichten!

Nächst der, die feinsten Fibern des Men-
schen anspannenden Liebe, scheint mir der auf-
blähende Hochmuth
am leichtesten die Ursache
der Verrücktheit werden zu können. Der Hoch-
müthige hat seinen größten Werth in seiner Ein-
bildungskraft, mit dieser, seiner vertrautesten
Freundin, weil sie sich ganz seinen Wünschen be-
quemt, geht er am liebsten und häufigsten um,
und denkt Tag und Nacht an die Belohnungen
und Ehren, welche seinen Werth krönen müssen.
Er entfernt sich gern mit seinen Gedanken von
dem Platze, in welchem er lebt; weil die, welche
mit ihm leben, wohl den Nebel, der seine Augen
verdunkelt, aber nicht den Werth sehn, den er

sich


Verruͤcktheit ſind, aufweiſen! O wie mancher
Seufzer mag da aus der Bruſt der Elenden uͤber
ſtolze Eltern oder Verwandte, welche das Herz
ihres Sohns oder ihrer Tochter, aus dem Arm
der Natur reißen, und unter die unnatuͤrlichen
Geſetze des Ranges oder Goldes ſchmiegen woll-
ten, emporſteigen! Wie mancher wuͤrde, wenn
er ſich ſelbſt denken und empfinden koͤnnte, in dem
Keficht, der ihm ſeine Freyheit raubt, weil er das
verlor, was ihn die Freyheit zu gebrauchen lehrt,
uͤber ſich ſelbſt ſeufzen, daß er durch zu haͤufige
Leſung weichlicher und romanhafter Schriften, ſei-
ne Phantaſie reizte, ſeinen Verſtand und ſeine
Denkkraft zu zernichten!

Naͤchſt der, die feinſten Fibern des Men-
ſchen anſpannenden Liebe, ſcheint mir der auf-
blaͤhende Hochmuth
am leichteſten die Urſache
der Verruͤcktheit werden zu koͤnnen. Der Hoch-
muͤthige hat ſeinen groͤßten Werth in ſeiner Ein-
bildungskraft, mit dieſer, ſeiner vertrauteſten
Freundin, weil ſie ſich ganz ſeinen Wuͤnſchen be-
quemt, geht er am liebſten und haͤufigſten um,
und denkt Tag und Nacht an die Belohnungen
und Ehren, welche ſeinen Werth kroͤnen muͤſſen.
Er entfernt ſich gern mit ſeinen Gedanken von
dem Platze, in welchem er lebt; weil die, welche
mit ihm leben, wohl den Nebel, der ſeine Augen
verdunkelt, aber nicht den Werth ſehn, den er

ſich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0211" n="187"/><lb/>
Verru&#x0364;cktheit &#x017F;ind, aufwei&#x017F;en! O wie mancher<lb/>
Seufzer mag da aus der Bru&#x017F;t der Elenden u&#x0364;ber<lb/>
&#x017F;tolze Eltern oder Verwandte, welche das Herz<lb/>
ihres Sohns oder ihrer Tochter, aus dem Arm<lb/>
der Natur reißen, und unter die unnatu&#x0364;rlichen<lb/>
Ge&#x017F;etze des Ranges oder Goldes &#x017F;chmiegen woll-<lb/>
ten, empor&#x017F;teigen! Wie mancher wu&#x0364;rde, wenn<lb/>
er &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t denken und empfinden ko&#x0364;nnte, in dem<lb/>
Keficht, der ihm &#x017F;eine Freyheit raubt, weil er das<lb/>
verlor, was ihn die Freyheit zu gebrauchen lehrt,<lb/>
u&#x0364;ber &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;eufzen, daß er durch zu ha&#x0364;ufige<lb/>
Le&#x017F;ung weichlicher und romanhafter Schriften, &#x017F;ei-<lb/>
ne Phanta&#x017F;ie reizte, &#x017F;einen Ver&#x017F;tand und &#x017F;eine<lb/>
Denkkraft zu zernichten!</p><lb/>
          <p>Na&#x0364;ch&#x017F;t der, die fein&#x017F;ten Fibern des Men-<lb/>
&#x017F;chen an&#x017F;pannenden Liebe, &#x017F;cheint mir der <hi rendition="#b">auf-<lb/>
bla&#x0364;hende Hochmuth</hi> am leichte&#x017F;ten die Ur&#x017F;ache<lb/>
der Verru&#x0364;cktheit werden zu ko&#x0364;nnen. Der Hoch-<lb/>
mu&#x0364;thige hat &#x017F;einen gro&#x0364;ßten Werth in &#x017F;einer Ein-<lb/>
bildungskraft, mit die&#x017F;er, &#x017F;einer vertraute&#x017F;ten<lb/>
Freundin, weil &#x017F;ie &#x017F;ich ganz &#x017F;einen Wu&#x0364;n&#x017F;chen be-<lb/>
quemt, geht er am lieb&#x017F;ten und ha&#x0364;ufig&#x017F;ten um,<lb/>
und denkt Tag und Nacht an die Belohnungen<lb/>
und Ehren, welche &#x017F;einen Werth kro&#x0364;nen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Er entfernt &#x017F;ich gern mit &#x017F;einen Gedanken von<lb/>
dem Platze, in welchem er lebt; weil die, welche<lb/>
mit ihm leben, wohl den Nebel, der &#x017F;eine Augen<lb/>
verdunkelt, aber nicht den Werth &#x017F;ehn, den er<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ich</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[187/0211] Verruͤcktheit ſind, aufweiſen! O wie mancher Seufzer mag da aus der Bruſt der Elenden uͤber ſtolze Eltern oder Verwandte, welche das Herz ihres Sohns oder ihrer Tochter, aus dem Arm der Natur reißen, und unter die unnatuͤrlichen Geſetze des Ranges oder Goldes ſchmiegen woll- ten, emporſteigen! Wie mancher wuͤrde, wenn er ſich ſelbſt denken und empfinden koͤnnte, in dem Keficht, der ihm ſeine Freyheit raubt, weil er das verlor, was ihn die Freyheit zu gebrauchen lehrt, uͤber ſich ſelbſt ſeufzen, daß er durch zu haͤufige Leſung weichlicher und romanhafter Schriften, ſei- ne Phantaſie reizte, ſeinen Verſtand und ſeine Denkkraft zu zernichten! Naͤchſt der, die feinſten Fibern des Men- ſchen anſpannenden Liebe, ſcheint mir der auf- blaͤhende Hochmuth am leichteſten die Urſache der Verruͤcktheit werden zu koͤnnen. Der Hoch- muͤthige hat ſeinen groͤßten Werth in ſeiner Ein- bildungskraft, mit dieſer, ſeiner vertrauteſten Freundin, weil ſie ſich ganz ſeinen Wuͤnſchen be- quemt, geht er am liebſten und haͤufigſten um, und denkt Tag und Nacht an die Belohnungen und Ehren, welche ſeinen Werth kroͤnen muͤſſen. Er entfernt ſich gern mit ſeinen Gedanken von dem Platze, in welchem er lebt; weil die, welche mit ihm leben, wohl den Nebel, der ſeine Augen verdunkelt, aber nicht den Werth ſehn, den er ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/211
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/211>, abgerufen am 11.12.2024.