Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

sey, welche sie wolle, in gleichem Maaße gerührt
und begehren, und verabscheuen sehr heftig oder
gar nicht.

Die nächste Quelle aller Schwärmerey ist
das von der erhitzten Phantasie getäuschte Herz,
und alles also, was diese Wirkung hervorbringen
kann, kann auch zur Schwärmerey die Veran-
lassung werden. Daher derjenige am leichtesten
von ihr ergriffen wird, der von einer sehr reizba-
ren Empfindung und heißer Leidenschaft ist.
Wenn nun in der Kindheit nicht die Erziehung
und in den folgenden Jahren nicht die eigne Be-
arbeitung dahin strebt, diese natürlichen Eigenheiten
zu mäßigen; sondern vielmehr durch Gewöhnung,
Lectüre weichlicher oder abentheuerlicher Schrif-
ten die Phantasie noch mehr angeregt wird; so
kann sie leicht die Schnellkraft erhalten, sich über
die Vernunft emporzuschwingen, und zur Bewe-
gerin des Willens zu machen: besonders wenn
äußere Umstände hinzukommen, welche ihr gün-
stig sind, z. B. Umgang mit Schwärmern, kör-
perliche Schwäche und Einsamkeit, welche vor-
züglich gefährlich ist, weil da der Mensch sich
selbst ganz überlassen, so viel Phantasmen brüten
kann, als er will, und niemand ihm einredet;
weil er, da nichts ihn zerstreuet, seine Aufmerk-
samkeit zu stark auf einige Dinge heftet, und dar-
über der andern vergißt. Wenn dann die richti-

ge

ſey, welche ſie wolle, in gleichem Maaße geruͤhrt
und begehren, und verabſcheuen ſehr heftig oder
gar nicht.

Die naͤchſte Quelle aller Schwaͤrmerey iſt
das von der erhitzten Phantaſie getaͤuſchte Herz,
und alles alſo, was dieſe Wirkung hervorbringen
kann, kann auch zur Schwaͤrmerey die Veran-
laſſung werden. Daher derjenige am leichteſten
von ihr ergriffen wird, der von einer ſehr reizba-
ren Empfindung und heißer Leidenſchaft iſt.
Wenn nun in der Kindheit nicht die Erziehung
und in den folgenden Jahren nicht die eigne Be-
arbeitung dahin ſtrebt, dieſe natuͤrlichen Eigenheiten
zu maͤßigen; ſondern vielmehr durch Gewoͤhnung,
Lectuͤre weichlicher oder abentheuerlicher Schrif-
ten die Phantaſie noch mehr angeregt wird; ſo
kann ſie leicht die Schnellkraft erhalten, ſich uͤber
die Vernunft emporzuſchwingen, und zur Bewe-
gerin des Willens zu machen: beſonders wenn
aͤußere Umſtaͤnde hinzukommen, welche ihr guͤn-
ſtig ſind, z. B. Umgang mit Schwaͤrmern, koͤr-
perliche Schwaͤche und Einſamkeit, welche vor-
zuͤglich gefaͤhrlich iſt, weil da der Menſch ſich
ſelbſt ganz uͤberlaſſen, ſo viel Phantasmen bruͤten
kann, als er will, und niemand ihm einredet;
weil er, da nichts ihn zerſtreuet, ſeine Aufmerk-
ſamkeit zu ſtark auf einige Dinge heftet, und dar-
uͤber der andern vergißt. Wenn dann die richti-

ge
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0284" n="260"/>
&#x017F;ey, welche &#x017F;ie wolle, in gleichem Maaße geru&#x0364;hrt<lb/>
und begehren, und verab&#x017F;cheuen &#x017F;ehr heftig oder<lb/>
gar nicht.</p><lb/>
          <p>Die na&#x0364;ch&#x017F;te Quelle aller Schwa&#x0364;rmerey i&#x017F;t<lb/>
das von der erhitzten Phanta&#x017F;ie geta&#x0364;u&#x017F;chte Herz,<lb/>
und alles al&#x017F;o, was die&#x017F;e Wirkung hervorbringen<lb/>
kann, kann auch zur Schwa&#x0364;rmerey die Veran-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;ung werden. Daher derjenige am leichte&#x017F;ten<lb/>
von ihr ergriffen wird, der von einer &#x017F;ehr reizba-<lb/>
ren Empfindung und heißer Leiden&#x017F;chaft i&#x017F;t.<lb/>
Wenn nun in der Kindheit nicht die Erziehung<lb/>
und in den folgenden Jahren nicht die eigne Be-<lb/>
arbeitung dahin &#x017F;trebt, die&#x017F;e natu&#x0364;rlichen Eigenheiten<lb/>
zu ma&#x0364;ßigen; &#x017F;ondern vielmehr durch Gewo&#x0364;hnung,<lb/>
Lectu&#x0364;re weichlicher oder abentheuerlicher Schrif-<lb/>
ten die Phanta&#x017F;ie noch mehr angeregt wird; &#x017F;o<lb/>
kann &#x017F;ie leicht die Schnellkraft erhalten, &#x017F;ich u&#x0364;ber<lb/>
die Vernunft emporzu&#x017F;chwingen, und zur Bewe-<lb/>
gerin des Willens zu machen: be&#x017F;onders wenn<lb/>
a&#x0364;ußere Um&#x017F;ta&#x0364;nde hinzukommen, welche ihr gu&#x0364;n-<lb/>
&#x017F;tig &#x017F;ind, z. B. Umgang mit Schwa&#x0364;rmern, ko&#x0364;r-<lb/>
perliche Schwa&#x0364;che und Ein&#x017F;amkeit, welche vor-<lb/>
zu&#x0364;glich gefa&#x0364;hrlich i&#x017F;t, weil da der Men&#x017F;ch &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t ganz u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o viel Phantasmen bru&#x0364;ten<lb/>
kann, als er will, und niemand ihm einredet;<lb/>
weil er, da nichts ihn zer&#x017F;treuet, &#x017F;eine Aufmerk-<lb/>
&#x017F;amkeit zu &#x017F;tark auf einige Dinge heftet, und dar-<lb/>
u&#x0364;ber der andern vergißt. Wenn dann die richti-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ge</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[260/0284] ſey, welche ſie wolle, in gleichem Maaße geruͤhrt und begehren, und verabſcheuen ſehr heftig oder gar nicht. Die naͤchſte Quelle aller Schwaͤrmerey iſt das von der erhitzten Phantaſie getaͤuſchte Herz, und alles alſo, was dieſe Wirkung hervorbringen kann, kann auch zur Schwaͤrmerey die Veran- laſſung werden. Daher derjenige am leichteſten von ihr ergriffen wird, der von einer ſehr reizba- ren Empfindung und heißer Leidenſchaft iſt. Wenn nun in der Kindheit nicht die Erziehung und in den folgenden Jahren nicht die eigne Be- arbeitung dahin ſtrebt, dieſe natuͤrlichen Eigenheiten zu maͤßigen; ſondern vielmehr durch Gewoͤhnung, Lectuͤre weichlicher oder abentheuerlicher Schrif- ten die Phantaſie noch mehr angeregt wird; ſo kann ſie leicht die Schnellkraft erhalten, ſich uͤber die Vernunft emporzuſchwingen, und zur Bewe- gerin des Willens zu machen: beſonders wenn aͤußere Umſtaͤnde hinzukommen, welche ihr guͤn- ſtig ſind, z. B. Umgang mit Schwaͤrmern, koͤr- perliche Schwaͤche und Einſamkeit, welche vor- zuͤglich gefaͤhrlich iſt, weil da der Menſch ſich ſelbſt ganz uͤberlaſſen, ſo viel Phantasmen bruͤten kann, als er will, und niemand ihm einredet; weil er, da nichts ihn zerſtreuet, ſeine Aufmerk- ſamkeit zu ſtark auf einige Dinge heftet, und dar- uͤber der andern vergißt. Wenn dann die richti- ge

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/284
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/284>, abgerufen am 21.11.2024.