Man hüte sich zuförderst über irgend etwas bestimmt zu urtheilen, welches man nicht von al- len Seiten betrachtet hat. Man muß dabey ir- ren, und gewöhnt sich endlich an ein unüberleg- tes und daher einseitiges und oberflächliches Ur- theil.
Um nun aber eine Sache von allen Seiten ansehn zu können, ist nöthig, sich die Kenntnisse zu verschaffen, welche dazu erfordert werden. Man sammle sich daher so viel Kenntnisse als möglich, besonders in denjenigen Stücken, wel- che am häufigsten unserm Urtheil vorgelegt wer- den können. -- Der Verstand will geübt seyn, wenn er zu einiger Kraft kommen soll. Wer Andre für sich denken läßt, lernt nie selbst denken. Daher gewöhne man sich ja nicht daran, auf die Worte eines Andern zu schwören. Dies macht den Verstand träge und kraftlos. Man hüte sich daher vor Beschäftigungen des Geistes, wel- che seinem Alter und Kräften noch zu schwer sind: hier muß man nachsagen, weil man nicht selbst sehen kann. Man lasse nicht die Zunge dem Verstande voreilen, sondern diesen erst denken, was jene ausspricht; sonst rächt sich der beleidig- te Verstand am Ende dadurch, daß er ganz zu- rückbleibt. Wo man irgend etwas wahrnimmt, versuche man daran seinen Verstand, oder ge- wöhne sich zu beobachten. Wird man Handlun-
gen,
T 3
Man huͤte ſich zufoͤrderſt uͤber irgend etwas beſtimmt zu urtheilen, welches man nicht von al- len Seiten betrachtet hat. Man muß dabey ir- ren, und gewoͤhnt ſich endlich an ein unuͤberleg- tes und daher einſeitiges und oberflaͤchliches Ur- theil.
Um nun aber eine Sache von allen Seiten anſehn zu koͤnnen, iſt noͤthig, ſich die Kenntniſſe zu verſchaffen, welche dazu erfordert werden. Man ſammle ſich daher ſo viel Kenntniſſe als moͤglich, beſonders in denjenigen Stuͤcken, wel- che am haͤufigſten unſerm Urtheil vorgelegt wer- den koͤnnen. — Der Verſtand will geuͤbt ſeyn, wenn er zu einiger Kraft kommen ſoll. Wer Andre fuͤr ſich denken laͤßt, lernt nie ſelbſt denken. Daher gewoͤhne man ſich ja nicht daran, auf die Worte eines Andern zu ſchwoͤren. Dies macht den Verſtand traͤge und kraftlos. Man huͤte ſich daher vor Beſchaͤftigungen des Geiſtes, wel- che ſeinem Alter und Kraͤften noch zu ſchwer ſind: hier muß man nachſagen, weil man nicht ſelbſt ſehen kann. Man laſſe nicht die Zunge dem Verſtande voreilen, ſondern dieſen erſt denken, was jene ausſpricht; ſonſt raͤcht ſich der beleidig- te Verſtand am Ende dadurch, daß er ganz zu- ruͤckbleibt. Wo man irgend etwas wahrnimmt, verſuche man daran ſeinen Verſtand, oder ge- woͤhne ſich zu beobachten. Wird man Handlun-
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Man huͤte ſich zufoͤrderſt uͤber irgend etwas
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len Seiten betrachtet hat. Man muß dabey ir-
ren, und gewoͤhnt ſich endlich an ein unuͤberleg-
tes und daher einſeitiges und oberflaͤchliches Ur-
theil.
Um nun aber eine Sache von allen Seiten
anſehn zu koͤnnen, iſt noͤthig, ſich die Kenntniſſe
zu verſchaffen, welche dazu erfordert werden.
Man ſammle ſich daher ſo viel Kenntniſſe als
moͤglich, beſonders in denjenigen Stuͤcken, wel-
che am haͤufigſten unſerm Urtheil vorgelegt wer-
den koͤnnen. — Der Verſtand will geuͤbt ſeyn,
wenn er zu einiger Kraft kommen ſoll. Wer
Andre fuͤr ſich denken laͤßt, lernt nie ſelbſt denken.
Daher gewoͤhne man ſich ja nicht daran, auf die
Worte eines Andern zu ſchwoͤren. Dies macht
den Verſtand traͤge und kraftlos. Man huͤte
ſich daher vor Beſchaͤftigungen des Geiſtes, wel-
che ſeinem Alter und Kraͤften noch zu ſchwer ſind:
hier muß man nachſagen, weil man nicht ſelbſt
ſehen kann. Man laſſe nicht die Zunge dem
Verſtande voreilen, ſondern dieſen erſt denken,
was jene ausſpricht; ſonſt raͤcht ſich der beleidig-
te Verſtand am Ende dadurch, daß er ganz zu-
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/317>, abgerufen am 16.02.2025.
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