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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

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Wenn eine Leidenschaft, welcher Art sie
auch sey, in dem Herzen ist, so nimmt diese die
Einbildungskraft gleichsam für sich allein in Be-
schlag, und läßt sie in allem ein Bild ihres Gegen-
standes finden. Allenthalben trägt die Jmagina-
tion dem Liebenden seine Geliebte nach:

Wenn ich beten und nachdenken wollte, sagt
Angelo bey Shakespear, so dachte und betete ich
ganz verschiedne Sachen; der Himmel hatte meine
leeren Worte, indeß mein Gedanke, ohne sich
an meine Zunge zu kehren, an Jsabellen festhieng.
Der Himmel war in meinem Munde; als wenn
ich blos seinen Namen verschlingen wollte; --
aber in meinem Herzen war das starke immer
wachsende Uebel meiner Leidenschaft.

Die über den Tod ihres geliebten Kindes
traurende Mutter wird allenthalben und durch al-
les an ihr verlornes Kleinod erinnert. Bey jedem
Tritt denkt sie daran, daß ihr Kind nicht neben
ihr wandelt, bey jeder Freude seufzt sie, weil sie
dieselbe mit dem, was ihr so lieb war, nicht
theilen kann. --

Wochen und Monate und Jahre begleitet
der Schatten der Geliebten den verlaßnen Lieben-
den auf allen seinen Wegen.

Septem
D 5

Wenn eine Leidenſchaft, welcher Art ſie
auch ſey, in dem Herzen iſt, ſo nimmt dieſe die
Einbildungskraft gleichſam fuͤr ſich allein in Be-
ſchlag, und laͤßt ſie in allem ein Bild ihres Gegen-
ſtandes finden. Allenthalben traͤgt die Jmagina-
tion dem Liebenden ſeine Geliebte nach:

Wenn ich beten und nachdenken wollte, ſagt
Angelo bey Shakeſpear, ſo dachte und betete ich
ganz verſchiedne Sachen; der Himmel hatte meine
leeren Worte, indeß mein Gedanke, ohne ſich
an meine Zunge zu kehren, an Jſabellen feſthieng.
Der Himmel war in meinem Munde; als wenn
ich blos ſeinen Namen verſchlingen wollte; —
aber in meinem Herzen war das ſtarke immer
wachſende Uebel meiner Leidenſchaft.

Die uͤber den Tod ihres geliebten Kindes
traurende Mutter wird allenthalben und durch al-
les an ihr verlornes Kleinod erinnert. Bey jedem
Tritt denkt ſie daran, daß ihr Kind nicht neben
ihr wandelt, bey jeder Freude ſeufzt ſie, weil ſie
dieſelbe mit dem, was ihr ſo lieb war, nicht
theilen kann. —

Wochen und Monate und Jahre begleitet
der Schatten der Geliebten den verlaßnen Lieben-
den auf allen ſeinen Wegen.

Septem
D 5
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[57/0081] Wenn eine Leidenſchaft, welcher Art ſie auch ſey, in dem Herzen iſt, ſo nimmt dieſe die Einbildungskraft gleichſam fuͤr ſich allein in Be- ſchlag, und laͤßt ſie in allem ein Bild ihres Gegen- ſtandes finden. Allenthalben traͤgt die Jmagina- tion dem Liebenden ſeine Geliebte nach: Wenn ich beten und nachdenken wollte, ſagt Angelo bey Shakeſpear, ſo dachte und betete ich ganz verſchiedne Sachen; der Himmel hatte meine leeren Worte, indeß mein Gedanke, ohne ſich an meine Zunge zu kehren, an Jſabellen feſthieng. Der Himmel war in meinem Munde; als wenn ich blos ſeinen Namen verſchlingen wollte; — aber in meinem Herzen war das ſtarke immer wachſende Uebel meiner Leidenſchaft. Die uͤber den Tod ihres geliebten Kindes traurende Mutter wird allenthalben und durch al- les an ihr verlornes Kleinod erinnert. Bey jedem Tritt denkt ſie daran, daß ihr Kind nicht neben ihr wandelt, bey jeder Freude ſeufzt ſie, weil ſie dieſelbe mit dem, was ihr ſo lieb war, nicht theilen kann. — Wochen und Monate und Jahre begleitet der Schatten der Geliebten den verlaßnen Lieben- den auf allen ſeinen Wegen. Septem D 5

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/81>, abgerufen am 24.11.2024.