nicht zu Hülfe kömmt: der verlernt nach und nach die Menschheit ganz, und die Sinnlichkeit legt einen Schlamm um sein Herz, durch den edlere und feinere Gefühle nicht dringen können. Es ist für den Menschenfreund äußerst niederschlagend, aber wahr, daß so Mancher, der sich gewöhnt, nur die Befriedigung seiner thierischen, oder eit- len, Begierden, für Glückseligkeit zu halten, stumpf wird für alle Gefühle der Menschheit. So mancher verführte Sohn kann die Wahrheit dieser Bemerkung beweisen. Die rührendsten Vorstel- lungen von dem Kummer seiner Eltern, der An- blick ihres Harms, der Gedanke, daß seine La- sterhaftigkeit oder Ausschweifung ihnen den Weg zum Grabe verkürzt, treffen sein Herz nicht. Er hört und sieht das Elend, das er bereitet, und fühlt es nicht! -- O Natur, wie wirst du von den Menschen, denen du so wohl willst, verläug- net! denn deine Schuld ist es wahrlich nicht, wenn der Mensch zum Barbaren wird.
So sehr ich den philosophischen Geschicht- schreiber, Robertson, achte, und so glaubwür- dig seine Erzählungen sind, so scheint er mir doch in den Bemerkungen über die Unempfindlichkeit und den Mangel des Mitgefühls bey den ameri- kanischen Wilden, diese zu hart beurtheilt zu ha- ben. Nachdem er einige Beyspiele von ihrer Un- gefälligkeit gegen solche, die der Hülfe bedürfen,
dem
nicht zu Huͤlfe koͤmmt: der verlernt nach und nach die Menſchheit ganz, und die Sinnlichkeit legt einen Schlamm um ſein Herz, durch den edlere und feinere Gefuͤhle nicht dringen koͤnnen. Es iſt fuͤr den Menſchenfreund aͤußerſt niederſchlagend, aber wahr, daß ſo Mancher, der ſich gewoͤhnt, nur die Befriedigung ſeiner thieriſchen, oder eit- len, Begierden, fuͤr Gluͤckſeligkeit zu halten, ſtumpf wird fuͤr alle Gefuͤhle der Menſchheit. So mancher verfuͤhrte Sohn kann die Wahrheit dieſer Bemerkung beweiſen. Die ruͤhrendſten Vorſtel- lungen von dem Kummer ſeiner Eltern, der An- blick ihres Harms, der Gedanke, daß ſeine La- ſterhaftigkeit oder Ausſchweifung ihnen den Weg zum Grabe verkuͤrzt, treffen ſein Herz nicht. Er hoͤrt und ſieht das Elend, das er bereitet, und fuͤhlt es nicht! — O Natur, wie wirſt du von den Menſchen, denen du ſo wohl willſt, verlaͤug- net! denn deine Schuld iſt es wahrlich nicht, wenn der Menſch zum Barbaren wird.
So ſehr ich den philoſophiſchen Geſchicht- ſchreiber, Robertſon, achte, und ſo glaubwuͤr- dig ſeine Erzaͤhlungen ſind, ſo ſcheint er mir doch in den Bemerkungen uͤber die Unempfindlichkeit und den Mangel des Mitgefuͤhls bey den ameri- kaniſchen Wilden, dieſe zu hart beurtheilt zu ha- ben. Nachdem er einige Beyſpiele von ihrer Un- gefaͤlligkeit gegen ſolche, die der Huͤlfe beduͤrfen,
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nicht zu Huͤlfe koͤmmt: der verlernt nach und nach
die Menſchheit ganz, und die Sinnlichkeit legt
einen Schlamm um ſein Herz, durch den edlere
und feinere Gefuͤhle nicht dringen koͤnnen. Es
iſt fuͤr den Menſchenfreund aͤußerſt niederſchlagend,
aber wahr, daß ſo Mancher, der ſich gewoͤhnt,
nur die Befriedigung ſeiner thieriſchen, oder eit-
len, Begierden, fuͤr Gluͤckſeligkeit zu halten, ſtumpf
wird fuͤr alle Gefuͤhle der Menſchheit. So
mancher verfuͤhrte Sohn kann die Wahrheit dieſer
Bemerkung beweiſen. Die ruͤhrendſten Vorſtel-
lungen von dem Kummer ſeiner Eltern, der An-
blick ihres Harms, der Gedanke, daß ſeine La-
ſterhaftigkeit oder Ausſchweifung ihnen den Weg
zum Grabe verkuͤrzt, treffen ſein Herz nicht. Er
hoͤrt und ſieht das Elend, das er bereitet, und
fuͤhlt es nicht! — O Natur, wie wirſt du von
den Menſchen, denen du ſo wohl willſt, verlaͤug-
net! denn deine Schuld iſt es wahrlich nicht,
wenn der Menſch zum Barbaren wird.
So ſehr ich den philoſophiſchen Geſchicht-
ſchreiber, Robertſon, achte, und ſo glaubwuͤr-
dig ſeine Erzaͤhlungen ſind, ſo ſcheint er mir doch
in den Bemerkungen uͤber die Unempfindlichkeit
und den Mangel des Mitgefuͤhls bey den ameri-
kaniſchen Wilden, dieſe zu hart beurtheilt zu ha-
ben. Nachdem er einige Beyſpiele von ihrer Un-
gefaͤlligkeit gegen ſolche, die der Huͤlfe beduͤrfen,
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/246>, abgerufen am 23.11.2024.
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