Erden so gut ist, oder: weil ich nicht weiß, wie es dort seyn wird, und das Gewisse doch besser als das Ungewisse ist.
Dies sind also die beyden Gründe der Liebe zum Leben: der Ueberschuß der angenehmen Zu- stände über die unangenehmen, und die Ungewiß- heit über die jenseits des Grabes sich eröfnende Zukunft.
Warum würde sonst nicht jeder Leidende, den Religion und Pflicht nicht leiten, dem Gefühl seines Leidens durch die Endigung seines Lebens ein Ende machen, wenn nicht bey allen seinen Klagen seine Empfindung widerspräche, und die unbekannte Zukunft ihm hier zu bleiben anriethe?
Was hielt den von schrecklichen Leiden gefolter- ten Hamlet ab, sich das Leben zu nehmen, als der Gedanke, vielleicht hört auch im Tode das Gefühl der Leiden nicht auf. "Was in jenem Schlafe des Todes, so spricht er mit sich selbst, wenn wir dieses sterblichen Getümmels entledigt sind, für Träume kommen können, das verdient Erwägung! Das ist die Rücksicht, die den Leiden ein so langes Leben schaft! -- Denn wer er- trüge sonst die Geissel und die Schmähungen der Welt, des Unterdrückers Unrecht, des Stolzen Schmach, die Qual verschmähter Liebe, die Zö- gerungen der Gesetze, den Uebermuth der Großen, und die Verhöhnung des leidenden Verdienstes von
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Erden ſo gut iſt, oder: weil ich nicht weiß, wie es dort ſeyn wird, und das Gewiſſe doch beſſer als das Ungewiſſe iſt.
Dies ſind alſo die beyden Gruͤnde der Liebe zum Leben: der Ueberſchuß der angenehmen Zu- ſtaͤnde uͤber die unangenehmen, und die Ungewiß- heit uͤber die jenſeits des Grabes ſich eroͤfnende Zukunft.
Warum wuͤrde ſonſt nicht jeder Leidende, den Religion und Pflicht nicht leiten, dem Gefuͤhl ſeines Leidens durch die Endigung ſeines Lebens ein Ende machen, wenn nicht bey allen ſeinen Klagen ſeine Empfindung widerſpraͤche, und die unbekannte Zukunft ihm hier zu bleiben anriethe?
Was hielt den von ſchrecklichen Leiden gefolter- ten Hamlet ab, ſich das Leben zu nehmen, als der Gedanke, vielleicht hoͤrt auch im Tode das Gefuͤhl der Leiden nicht auf. „Was in jenem Schlafe des Todes, ſo ſpricht er mit ſich ſelbſt, wenn wir dieſes ſterblichen Getuͤmmels entledigt ſind, fuͤr Traͤume kommen koͤnnen, das verdient Erwaͤgung! Das iſt die Ruͤckſicht, die den Leiden ein ſo langes Leben ſchaft! — Denn wer er- truͤge ſonſt die Geiſſel und die Schmaͤhungen der Welt, des Unterdruͤckers Unrecht, des Stolzen Schmach, die Qual verſchmaͤhter Liebe, die Zoͤ- gerungen der Geſetze, den Uebermuth der Großen, und die Verhoͤhnung des leidenden Verdienſtes von
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Erden ſo gut iſt, oder: weil ich nicht weiß, wie
es dort ſeyn wird, und das Gewiſſe doch beſſer
als das Ungewiſſe iſt.
Dies ſind alſo die beyden Gruͤnde der Liebe
zum Leben: der Ueberſchuß der angenehmen Zu-
ſtaͤnde uͤber die unangenehmen, und die Ungewiß-
heit uͤber die jenſeits des Grabes ſich eroͤfnende
Zukunft.
Warum wuͤrde ſonſt nicht jeder Leidende, den
Religion und Pflicht nicht leiten, dem Gefuͤhl
ſeines Leidens durch die Endigung ſeines Lebens
ein Ende machen, wenn nicht bey allen ſeinen
Klagen ſeine Empfindung widerſpraͤche, und die
unbekannte Zukunft ihm hier zu bleiben anriethe?
Was hielt den von ſchrecklichen Leiden gefolter-
ten Hamlet ab, ſich das Leben zu nehmen, als
der Gedanke, vielleicht hoͤrt auch im Tode das
Gefuͤhl der Leiden nicht auf. „Was in jenem
Schlafe des Todes, ſo ſpricht er mit ſich ſelbſt,
wenn wir dieſes ſterblichen Getuͤmmels entledigt
ſind, fuͤr Traͤume kommen koͤnnen, das verdient
Erwaͤgung! Das iſt die Ruͤckſicht, die den Leiden
ein ſo langes Leben ſchaft! — Denn wer er-
truͤge ſonſt die Geiſſel und die Schmaͤhungen der
Welt, des Unterdruͤckers Unrecht, des Stolzen
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/27>, abgerufen am 21.11.2024.
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