fortschleppen oder fortreißen läßt; der wird frey- lich keinen Tritt thun, als der von einem Andern schon ausgetreten ist; der wird auch wohl Fehler annehmen, und, ohne daß er es selbst weiß, eine geschmackwidrige Kopie werden. -- Jeder, der die Kunst versteht, einem solchen Schwächling zu imponiren, das heißt, sich ihm als wichtig und über ihn erhaben vorzustellen, wird die Freu- de haben, von ihm nachgebildet zu werden. Jn- deß so empfänglich diese Schwachen für jeden fremden Eindruck sind; so genau sie selbst die ge- ringsten Eigenthümlichkeiten ihres Originals, Ge- berden, Gang, Stellung und Stimme nach- formen; eben so schnell wird auch alles, was sie angenommen haben, wieder ausgetilgt, sobald sie ein andres Muster finden, welches stärker auf sie wirkt, oder ihr Gott, nach dem sie sich bilde- ten, vor ihren Augen verschwunden ist.
Zu große Geneigtheit zum Nachahmen setzt immer Schwäche voraus; aber auf der andern Seite muß ja nicht die Unwirksamkeit des Nach- ahmungstriebes sogleich einer Stärke der Seele zugeschrieben werden. Wo dieser Trieb wirken soll, muß Reizbarkeit des Gefühls, und wenig- stens eine Art von Werthschätzung des Guten und Vollkommnen seyn. Aber "es giebt, wie der vortrefliche Garve sagt, ganz mittelmäßige Köpfe und Seelen, die nicht nachahmen, weil
sie
Z 3
fortſchleppen oder fortreißen laͤßt; der wird frey- lich keinen Tritt thun, als der von einem Andern ſchon ausgetreten iſt; der wird auch wohl Fehler annehmen, und, ohne daß er es ſelbſt weiß, eine geſchmackwidrige Kopie werden. — Jeder, der die Kunſt verſteht, einem ſolchen Schwaͤchling zu imponiren, das heißt, ſich ihm als wichtig und uͤber ihn erhaben vorzuſtellen, wird die Freu- de haben, von ihm nachgebildet zu werden. Jn- deß ſo empfaͤnglich dieſe Schwachen fuͤr jeden fremden Eindruck ſind; ſo genau ſie ſelbſt die ge- ringſten Eigenthuͤmlichkeiten ihres Originals, Ge- berden, Gang, Stellung und Stimme nach- formen; eben ſo ſchnell wird auch alles, was ſie angenommen haben, wieder ausgetilgt, ſobald ſie ein andres Muſter finden, welches ſtaͤrker auf ſie wirkt, oder ihr Gott, nach dem ſie ſich bilde- ten, vor ihren Augen verſchwunden iſt.
Zu große Geneigtheit zum Nachahmen ſetzt immer Schwaͤche voraus; aber auf der andern Seite muß ja nicht die Unwirkſamkeit des Nach- ahmungstriebes ſogleich einer Staͤrke der Seele zugeſchrieben werden. Wo dieſer Trieb wirken ſoll, muß Reizbarkeit des Gefuͤhls, und wenig- ſtens eine Art von Werthſchaͤtzung des Guten und Vollkommnen ſeyn. Aber „es giebt, wie der vortrefliche Garve ſagt, ganz mittelmaͤßige Koͤpfe und Seelen, die nicht nachahmen, weil
ſie
Z 3
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0073"n="357"/>
fortſchleppen oder fortreißen laͤßt; der wird frey-<lb/>
lich keinen Tritt thun, als der von einem Andern<lb/>ſchon ausgetreten iſt; der wird auch wohl Fehler<lb/>
annehmen, und, ohne daß er es ſelbſt weiß, eine<lb/>
geſchmackwidrige Kopie werden. — Jeder,<lb/>
der die Kunſt verſteht, einem ſolchen Schwaͤchling<lb/>
zu imponiren, das heißt, ſich ihm als wichtig<lb/>
und uͤber ihn erhaben vorzuſtellen, wird die Freu-<lb/>
de haben, von ihm nachgebildet zu werden. Jn-<lb/>
deß ſo empfaͤnglich dieſe Schwachen fuͤr jeden<lb/>
fremden Eindruck ſind; ſo genau ſie ſelbſt die ge-<lb/>
ringſten Eigenthuͤmlichkeiten ihres Originals, Ge-<lb/>
berden, Gang, Stellung und Stimme nach-<lb/>
formen; eben ſo ſchnell wird auch alles, was ſie<lb/>
angenommen haben, wieder ausgetilgt, ſobald<lb/>ſie ein andres Muſter finden, welches ſtaͤrker auf<lb/>ſie wirkt, oder ihr Gott, nach dem ſie ſich bilde-<lb/>
ten, vor ihren Augen verſchwunden iſt.</p><lb/><p>Zu große Geneigtheit zum Nachahmen ſetzt<lb/>
immer Schwaͤche voraus; aber auf der andern<lb/>
Seite muß ja nicht die Unwirkſamkeit des Nach-<lb/>
ahmungstriebes ſogleich einer Staͤrke der Seele<lb/>
zugeſchrieben werden. Wo dieſer Trieb wirken<lb/>ſoll, muß Reizbarkeit des Gefuͤhls, und wenig-<lb/>ſtens eine Art von Werthſchaͤtzung des Guten<lb/>
und Vollkommnen ſeyn. Aber „es giebt, wie<lb/>
der vortrefliche <hirendition="#b">Garve</hi>ſagt, ganz mittelmaͤßige<lb/>
Koͤpfe und Seelen, die nicht nachahmen, weil<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Z 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">ſie</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[357/0073]
fortſchleppen oder fortreißen laͤßt; der wird frey-
lich keinen Tritt thun, als der von einem Andern
ſchon ausgetreten iſt; der wird auch wohl Fehler
annehmen, und, ohne daß er es ſelbſt weiß, eine
geſchmackwidrige Kopie werden. — Jeder,
der die Kunſt verſteht, einem ſolchen Schwaͤchling
zu imponiren, das heißt, ſich ihm als wichtig
und uͤber ihn erhaben vorzuſtellen, wird die Freu-
de haben, von ihm nachgebildet zu werden. Jn-
deß ſo empfaͤnglich dieſe Schwachen fuͤr jeden
fremden Eindruck ſind; ſo genau ſie ſelbſt die ge-
ringſten Eigenthuͤmlichkeiten ihres Originals, Ge-
berden, Gang, Stellung und Stimme nach-
formen; eben ſo ſchnell wird auch alles, was ſie
angenommen haben, wieder ausgetilgt, ſobald
ſie ein andres Muſter finden, welches ſtaͤrker auf
ſie wirkt, oder ihr Gott, nach dem ſie ſich bilde-
ten, vor ihren Augen verſchwunden iſt.
Zu große Geneigtheit zum Nachahmen ſetzt
immer Schwaͤche voraus; aber auf der andern
Seite muß ja nicht die Unwirkſamkeit des Nach-
ahmungstriebes ſogleich einer Staͤrke der Seele
zugeſchrieben werden. Wo dieſer Trieb wirken
ſoll, muß Reizbarkeit des Gefuͤhls, und wenig-
ſtens eine Art von Werthſchaͤtzung des Guten
und Vollkommnen ſeyn. Aber „es giebt, wie
der vortrefliche Garve ſagt, ganz mittelmaͤßige
Koͤpfe und Seelen, die nicht nachahmen, weil
ſie
Z 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/73>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.