Rings um ihn stille tiefe Einsamkeit. Langgestreckte Nebelstreifen lagen über dem wilden Thal, wo die Sitter dem Seealpsee entspringt, aber hoch drüber weg schauten grimmige Steinwände, von spärlichem Grün umsäumt, himmelan. Die Berghalden wo jetzt in schindel- umhüllten Hütten ein fröhlich Hirtenvolk zahlreich nistet, waren da- mals zumeist öde und spärlich bewohnt; nur fern in der Niederung des Thal's stund die Zelle des Abts von Sanct Gallen und wenig Behausungen dabei. Nach der blutigen Feldschlacht bei Zülpich war eine kleine Schaar freiheitsliebender alemannischer Männer, die dem Franken ihren Nacken zu beugen nimmer erlernen mochten, in diese Einöde gezogen;251) in zerstreuten Ansiedelungen saßen ihre Nach- kommen und trieben in Sommerszeit ihre Heerden zur Alp, kräftig verständige Bergbewohner, die unangetastet vom Lärm der Welt ein einfach freies Leben genossen und den folgenden Geschlechtern ver- erbten.
Steiler und rauher ward der Pfad, den der Mann einschlug. Jetzt stund er unter senkrecht aufstarrender Felswand; ein schwerer Wassertropfen war aus dem Kalkgestein auf sein Haupt niedergetrauft, da schaute er prüfend empor ob der grauenhafte Ueberhang noch an- halte mit dem Einsturz, bis er vorüber. Aber Felswände vermögen länger im schiefen Zustand zu verharren als das was Menschenhände bauen; es stürzte nichts herab als ein zweiter Tropfen.
Mit der Linken am Gestein sich anlehnend schritt der Mann vor- wärts. Immer schmäler ward der Steig, der schwarze Abgrund zur Seite rückte näher, schwindelnde Tiefe gähnte herauf ... jetzt schwand auch die letzte Spur eines Pfades. Zwei mächtige Fichtenstämme waren als Brücke über den Abgrund gelegt. Es muß sein! sprach der Mann und schritt unverzagt drüber. Er athmete hoch auf, wie er drüben wieder Boden unter den Füßen verspürte, und machte Halt, um sich den grausigen Platz zu betrachten. Es war ein schmaler Fels- vorsprung, über und unter ihm senkrechte gelbgraue Steinwand, in der Tiefe kaum sichtbar, ein Silberstreif im Grün des Thales, der Waldbach Sitter, und scheu versteckt im Tannendunkel der meerfarbige Spiegel des Seealpsee. Genüber, gepanzert und gewappnet die Schaar der Bergesriesen -- die Feder will zu fröhlichem Sang auf- jodeln, da sie ihre Namen schreiben soll: der langgestreckte räthselvolle
Rings um ihn ſtille tiefe Einſamkeit. Langgeſtreckte Nebelſtreifen lagen über dem wilden Thal, wo die Sitter dem Seealpſee entſpringt, aber hoch drüber weg ſchauten grimmige Steinwände, von ſpärlichem Grün umſäumt, himmelan. Die Berghalden wo jetzt in ſchindel- umhüllten Hütten ein fröhlich Hirtenvolk zahlreich niſtet, waren da- mals zumeiſt öde und ſpärlich bewohnt; nur fern in der Niederung des Thal's ſtund die Zelle des Abts von Sanct Gallen und wenig Behauſungen dabei. Nach der blutigen Feldſchlacht bei Zülpich war eine kleine Schaar freiheitsliebender alemanniſcher Männer, die dem Franken ihren Nacken zu beugen nimmer erlernen mochten, in dieſe Einöde gezogen;251) in zerſtreuten Anſiedelungen ſaßen ihre Nach- kommen und trieben in Sommerszeit ihre Heerden zur Alp, kräftig verſtändige Bergbewohner, die unangetaſtet vom Lärm der Welt ein einfach freies Leben genoſſen und den folgenden Geſchlechtern ver- erbten.
Steiler und rauher ward der Pfad, den der Mann einſchlug. Jetzt ſtund er unter ſenkrecht aufſtarrender Felswand; ein ſchwerer Waſſertropfen war aus dem Kalkgeſtein auf ſein Haupt niedergetrauft, da ſchaute er prüfend empor ob der grauenhafte Ueberhang noch an- halte mit dem Einſturz, bis er vorüber. Aber Felswände vermögen länger im ſchiefen Zuſtand zu verharren als das was Menſchenhände bauen; es ſtürzte nichts herab als ein zweiter Tropfen.
Mit der Linken am Geſtein ſich anlehnend ſchritt der Mann vor- wärts. Immer ſchmäler ward der Steig, der ſchwarze Abgrund zur Seite rückte näher, ſchwindelnde Tiefe gähnte herauf ... jetzt ſchwand auch die letzte Spur eines Pfades. Zwei mächtige Fichtenſtämme waren als Brücke über den Abgrund gelegt. Es muß ſein! ſprach der Mann und ſchritt unverzagt drüber. Er athmete hoch auf, wie er drüben wieder Boden unter den Füßen verſpürte, und machte Halt, um ſich den grauſigen Platz zu betrachten. Es war ein ſchmaler Fels- vorſprung, über und unter ihm ſenkrechte gelbgraue Steinwand, in der Tiefe kaum ſichtbar, ein Silberſtreif im Grün des Thales, der Waldbach Sitter, und ſcheu verſteckt im Tannendunkel der meerfarbige Spiegel des Seealpſee. Genüber, gepanzert und gewappnet die Schaar der Bergesrieſen — die Feder will zu fröhlichem Sang auf- jodeln, da ſie ihre Namen ſchreiben ſoll: der langgeſtreckte räthſelvolle
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0340"n="318"/><p>Rings um ihn ſtille tiefe Einſamkeit. Langgeſtreckte Nebelſtreifen<lb/>
lagen über dem wilden Thal, wo die Sitter dem Seealpſee entſpringt,<lb/>
aber hoch drüber weg ſchauten grimmige Steinwände, von ſpärlichem<lb/>
Grün umſäumt, himmelan. Die Berghalden wo jetzt in ſchindel-<lb/>
umhüllten Hütten ein fröhlich Hirtenvolk zahlreich niſtet, waren da-<lb/>
mals zumeiſt öde und ſpärlich bewohnt; nur fern in der Niederung<lb/>
des Thal's ſtund die Zelle des Abts von Sanct Gallen und wenig<lb/>
Behauſungen dabei. Nach der blutigen Feldſchlacht bei Zülpich war<lb/>
eine kleine Schaar freiheitsliebender alemanniſcher Männer, die dem<lb/>
Franken ihren Nacken zu beugen nimmer erlernen mochten, in dieſe<lb/>
Einöde gezogen;<notexml:id="ed251"next="#edt251"place="end"n="251)"/> in zerſtreuten Anſiedelungen ſaßen ihre Nach-<lb/>
kommen und trieben in Sommerszeit ihre Heerden zur Alp, kräftig<lb/>
verſtändige Bergbewohner, die unangetaſtet vom Lärm der Welt ein<lb/>
einfach freies Leben genoſſen und den folgenden Geſchlechtern ver-<lb/>
erbten.</p><lb/><p>Steiler und rauher ward der Pfad, den der Mann einſchlug.<lb/>
Jetzt ſtund er unter ſenkrecht aufſtarrender Felswand; ein ſchwerer<lb/>
Waſſertropfen war aus dem Kalkgeſtein auf ſein Haupt niedergetrauft,<lb/>
da ſchaute er prüfend empor ob der grauenhafte Ueberhang noch an-<lb/>
halte mit dem Einſturz, bis er vorüber. Aber Felswände vermögen<lb/>
länger im ſchiefen Zuſtand zu verharren als das was Menſchenhände<lb/>
bauen; es ſtürzte nichts herab als ein zweiter Tropfen.</p><lb/><p>Mit der Linken am Geſtein ſich anlehnend ſchritt der Mann vor-<lb/>
wärts. Immer ſchmäler ward der Steig, der ſchwarze Abgrund zur<lb/>
Seite rückte näher, ſchwindelnde Tiefe gähnte herauf ... jetzt ſchwand<lb/>
auch die letzte Spur eines Pfades. Zwei mächtige Fichtenſtämme<lb/>
waren als Brücke über den Abgrund gelegt. Es muß ſein! ſprach<lb/>
der Mann und ſchritt unverzagt drüber. Er athmete hoch auf, wie<lb/>
er drüben wieder Boden unter den Füßen verſpürte, und machte Halt,<lb/>
um ſich den grauſigen Platz zu betrachten. Es war ein ſchmaler Fels-<lb/>
vorſprung, über und unter ihm ſenkrechte gelbgraue Steinwand, in<lb/>
der Tiefe kaum ſichtbar, ein Silberſtreif im Grün des Thales, der<lb/>
Waldbach Sitter, und ſcheu verſteckt im Tannendunkel der meerfarbige<lb/>
Spiegel des Seealpſee. Genüber, gepanzert und gewappnet die<lb/>
Schaar der Bergesrieſen — die Feder will zu fröhlichem Sang auf-<lb/>
jodeln, da ſie ihre Namen ſchreiben ſoll: der langgeſtreckte räthſelvolle<lb/></p></div></body></text></TEI>
[318/0340]
Rings um ihn ſtille tiefe Einſamkeit. Langgeſtreckte Nebelſtreifen
lagen über dem wilden Thal, wo die Sitter dem Seealpſee entſpringt,
aber hoch drüber weg ſchauten grimmige Steinwände, von ſpärlichem
Grün umſäumt, himmelan. Die Berghalden wo jetzt in ſchindel-
umhüllten Hütten ein fröhlich Hirtenvolk zahlreich niſtet, waren da-
mals zumeiſt öde und ſpärlich bewohnt; nur fern in der Niederung
des Thal's ſtund die Zelle des Abts von Sanct Gallen und wenig
Behauſungen dabei. Nach der blutigen Feldſchlacht bei Zülpich war
eine kleine Schaar freiheitsliebender alemanniſcher Männer, die dem
Franken ihren Nacken zu beugen nimmer erlernen mochten, in dieſe
Einöde gezogen;
²⁵¹⁾
in zerſtreuten Anſiedelungen ſaßen ihre Nach-
kommen und trieben in Sommerszeit ihre Heerden zur Alp, kräftig
verſtändige Bergbewohner, die unangetaſtet vom Lärm der Welt ein
einfach freies Leben genoſſen und den folgenden Geſchlechtern ver-
erbten.
Steiler und rauher ward der Pfad, den der Mann einſchlug.
Jetzt ſtund er unter ſenkrecht aufſtarrender Felswand; ein ſchwerer
Waſſertropfen war aus dem Kalkgeſtein auf ſein Haupt niedergetrauft,
da ſchaute er prüfend empor ob der grauenhafte Ueberhang noch an-
halte mit dem Einſturz, bis er vorüber. Aber Felswände vermögen
länger im ſchiefen Zuſtand zu verharren als das was Menſchenhände
bauen; es ſtürzte nichts herab als ein zweiter Tropfen.
Mit der Linken am Geſtein ſich anlehnend ſchritt der Mann vor-
wärts. Immer ſchmäler ward der Steig, der ſchwarze Abgrund zur
Seite rückte näher, ſchwindelnde Tiefe gähnte herauf ... jetzt ſchwand
auch die letzte Spur eines Pfades. Zwei mächtige Fichtenſtämme
waren als Brücke über den Abgrund gelegt. Es muß ſein! ſprach
der Mann und ſchritt unverzagt drüber. Er athmete hoch auf, wie
er drüben wieder Boden unter den Füßen verſpürte, und machte Halt,
um ſich den grauſigen Platz zu betrachten. Es war ein ſchmaler Fels-
vorſprung, über und unter ihm ſenkrechte gelbgraue Steinwand, in
der Tiefe kaum ſichtbar, ein Silberſtreif im Grün des Thales, der
Waldbach Sitter, und ſcheu verſteckt im Tannendunkel der meerfarbige
Spiegel des Seealpſee. Genüber, gepanzert und gewappnet die
Schaar der Bergesrieſen — die Feder will zu fröhlichem Sang auf-
jodeln, da ſie ihre Namen ſchreiben ſoll: der langgeſtreckte räthſelvolle
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/340>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.