las ich jedes Buch, das in mein Haus kam, las aber und lese noch jedes Buch ohne Unter- schied so schnell, wie man es mit Romanen thut, und überlaß es meinem einst erwehn- ten esprit primsautier, was er daraus be- halten will oder kann. Nachzudenken beim Lesen ist eben nicht meine Sache, Auszüge zu machen noch weniger, und nur selten streich ich eine Stelle mit dem Bleystift an. Ein vornehmer Mann, der den Gracian und Chesterfield fleißig fludirt hatte, sagte mir einst, als ich ihn um die Mitthei- lung eines Buchs ersuchte: "Wenn ich nicht "wüste, daß sie mich von langer Zeit her "schon kannten, so gäb ich es ihnen nicht, "weil ich vieles darin angestrichen habe, und "solche Beystriche Selbstbekenntniße sind, die man nicht jedem machen mag." *)
Soviel bleibt mir indessen fast immer vom Geiste des Buchs, daß ich, wenn auch nicht einen Aufsatz darüber, wie der ganz treffliche vom Regierungsrath Dell- brück über Göthes Wahlverwandschaften
*) Aus dem Durchsehen fremder Bücherrechnungen im Buchladen hab' ich selbst manchen richtigen Schluß auf den Charakter des Käufers gemacht.
A a
las ich jedes Buch, das in mein Haus kam, las aber und leſe noch jedes Buch ohne Unter- ſchied ſo ſchnell, wie man es mit Romanen thut, und uͤberlaß es meinem einſt erwehn- ten eſprit primſautièr, was er daraus be- halten will oder kann. Nachzudenken beim Leſen iſt eben nicht meine Sache, Auszuͤge zu machen noch weniger, und nur ſelten ſtreich ich eine Stelle mit dem Bleyſtift an. Ein vornehmer Mann, der den Gracian und Cheſterfield fleißig fludirt hatte, ſagte mir einſt, als ich ihn um die Mitthei- lung eines Buchs erſuchte: „Wenn ich nicht „wuͤſte, daß ſie mich von langer Zeit her „ſchon kannten, ſo gaͤb ich es ihnen nicht, „weil ich vieles darin angeſtrichen habe, und „ſolche Beyſtriche Selbſtbekenntniße ſind, die man nicht jedem machen mag.“ *)
Soviel bleibt mir indeſſen faſt immer vom Geiſte des Buchs, daß ich, wenn auch nicht einen Aufſatz daruͤber, wie der ganz treffliche vom Regierungsrath Dell- bruͤck uͤber Goͤthes Wahlverwandſchaften
*) Aus dem Durchſehen fremder Buͤcherrechnungen im Buchladen hab’ ich ſelbſt manchen richtigen Schluß auf den Charakter des Kaͤufers gemacht.
A a
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0386"n="369"/>
las ich jedes Buch, das in mein Haus kam,<lb/>
las aber und leſe noch jedes Buch ohne Unter-<lb/>ſchied ſo ſchnell, wie man es mit Romanen<lb/>
thut, und uͤberlaß es meinem einſt erwehn-<lb/>
ten <hirendition="#aq">eſprit primſautièr,</hi> was er daraus be-<lb/>
halten will oder kann. Nachzudenken beim<lb/>
Leſen iſt eben nicht meine Sache, Auszuͤge<lb/>
zu machen noch weniger, und nur ſelten<lb/>ſtreich ich eine Stelle mit dem Bleyſtift an.<lb/>
Ein vornehmer Mann, der den <hirendition="#g">Gracian</hi><lb/>
und <hirendition="#g">Cheſterfield</hi> fleißig fludirt hatte,<lb/>ſagte mir einſt, als ich ihn um die Mitthei-<lb/>
lung eines Buchs erſuchte: „Wenn ich nicht<lb/>„wuͤſte, daß ſie mich von langer Zeit her<lb/>„ſchon kannten, ſo gaͤb ich es ihnen nicht,<lb/>„weil ich vieles darin angeſtrichen habe, und<lb/>„ſolche Beyſtriche Selbſtbekenntniße ſind,<lb/>
die man nicht jedem machen mag.“<noteplace="foot"n="*)">Aus dem Durchſehen fremder Buͤcherrechnungen<lb/>
im Buchladen hab’ ich ſelbſt manchen richtigen<lb/>
Schluß auf den Charakter des Kaͤufers gemacht.</note></p><lb/><p>Soviel bleibt mir indeſſen faſt immer<lb/>
vom Geiſte des Buchs, daß ich, wenn<lb/>
auch nicht einen Aufſatz daruͤber, wie der<lb/>
ganz treffliche vom Regierungsrath <hirendition="#g">Dell-<lb/>
bruͤck</hi> uͤber Goͤthes Wahlverwandſchaften<lb/><fwplace="bottom"type="sig">A a</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[369/0386]
las ich jedes Buch, das in mein Haus kam,
las aber und leſe noch jedes Buch ohne Unter-
ſchied ſo ſchnell, wie man es mit Romanen
thut, und uͤberlaß es meinem einſt erwehn-
ten eſprit primſautièr, was er daraus be-
halten will oder kann. Nachzudenken beim
Leſen iſt eben nicht meine Sache, Auszuͤge
zu machen noch weniger, und nur ſelten
ſtreich ich eine Stelle mit dem Bleyſtift an.
Ein vornehmer Mann, der den Gracian
und Cheſterfield fleißig fludirt hatte,
ſagte mir einſt, als ich ihn um die Mitthei-
lung eines Buchs erſuchte: „Wenn ich nicht
„wuͤſte, daß ſie mich von langer Zeit her
„ſchon kannten, ſo gaͤb ich es ihnen nicht,
„weil ich vieles darin angeſtrichen habe, und
„ſolche Beyſtriche Selbſtbekenntniße ſind,
die man nicht jedem machen mag.“ *)
Soviel bleibt mir indeſſen faſt immer
vom Geiſte des Buchs, daß ich, wenn
auch nicht einen Aufſatz daruͤber, wie der
ganz treffliche vom Regierungsrath Dell-
bruͤck uͤber Goͤthes Wahlverwandſchaften
*) Aus dem Durchſehen fremder Buͤcherrechnungen
im Buchladen hab’ ich ſelbſt manchen richtigen
Schluß auf den Charakter des Kaͤufers gemacht.
A a
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/386>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.