Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht berührt hat, weil er es zu seiner Zeit
nicht wissen, ja kaum ahnen konnte, denn
Regnier sagt in seiner fünften Satyre:

"haben. Es ist dieser hülflose Zustand eines
"schwachen Alters ein sanfter, allmähliger Ueber-
"gang durch neue Kindheit in den Leib der
"Mutter -- in die Erde. Und dieser neue
"Zustand des Ungebohrnen, wo in stiller Auflö-
"sung der letzten Bande, in des Grabes tiefem,
"letzten Schlummer, die Keime eines höhern
"Daseyns aus der Gährung des Alten bereitet
"werden, entläßt jenen, schon bey scheinbarem
"Leben Eingeschlummerten früher und leichter
"zur neuen Ergänzung. Wenn uns dann end-
"lich, mit der letzten Kraft der Jugend, alle
"Gefährten, alle Freuden einer bessern Zeit ge-
"storben, wenn uns ohne Genuß und innre
"Wärme, verwais't an fremder Liebe und Mit-
"leid, ja vergessen von der mit uns lebenden
"Welt, kaum noch das dumpfe Gefühl unsrer
"Kraftlosigkeit geblieben, sind wir am wenigsten
"von jener ewigen Güte verlassen, welche über
"das Schwache und Verlaßne, über das zarte
"Beginnen der Kindheit und über hülfloses
"Alter am väterlichsten wacht. Und wenn
"selbst die noch übriggebliebnen Freunde an der
"Gruft schieden, wird jene Hand treulich über
"uns bleiben, welche uns einst im Mutterleibe
"gebildet. Das Leben ist vergangen, seine Erin-
"nerungen kehren nicht wieder, und ein Zustand

nicht beruͤhrt hat, weil er es zu ſeiner Zeit
nicht wiſſen, ja kaum ahnen konnte, denn
Regnier ſagt in ſeiner fuͤnften Satyre:

„haben. Es iſt dieſer huͤlfloſe Zuſtand eines
„ſchwachen Alters ein ſanfter, allmaͤhliger Ueber-
„gang durch neue Kindheit in den Leib der
„Mutter — in die Erde. Und dieſer neue
„Zuſtand des Ungebohrnen, wo in ſtiller Aufloͤ-
„ſung der letzten Bande, in des Grabes tiefem,
„letzten Schlummer, die Keime eines hoͤhern
„Daſeyns aus der Gaͤhrung des Alten bereitet
„werden, entlaͤßt jenen, ſchon bey ſcheinbarem
„Leben Eingeſchlummerten fruͤher und leichter
„zur neuen Ergaͤnzung. Wenn uns dann end-
„lich, mit der letzten Kraft der Jugend, alle
„Gefaͤhrten, alle Freuden einer beſſern Zeit ge-
„ſtorben, wenn uns ohne Genuß und innre
„Waͤrme, verwaiſ’t an fremder Liebe und Mit-
„leid, ja vergeſſen von der mit uns lebenden
„Welt, kaum noch das dumpfe Gefuͤhl unſrer
„Kraftloſigkeit geblieben, ſind wir am wenigſten
„von jener ewigen Guͤte verlaſſen, welche uͤber
„das Schwache und Verlaßne, uͤber das zarte
„Beginnen der Kindheit und uͤber huͤlfloſes
„Alter am vaͤterlichſten wacht. Und wenn
„ſelbſt die noch uͤbriggebliebnen Freunde an der
„Gruft ſchieden, wird jene Hand treulich uͤber
„uns bleiben, welche uns einſt im Mutterleibe
„gebildet. Das Leben iſt vergangen, ſeine Erin-
„nerungen kehren nicht wieder, und ein Zuſtand
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0413" n="396"/>
nicht beru&#x0364;hrt hat, weil er es zu &#x017F;einer Zeit<lb/>
nicht wi&#x017F;&#x017F;en, ja kaum ahnen konnte, denn<lb/>
Regnier &#x017F;agt in &#x017F;einer fu&#x0364;nften Satyre:</p><lb/>
          <p>
            <note next="#seg2pn_34_4" xml:id="seg2pn_34_3" prev="#seg2pn_34_2" place="foot" n="**)">
              <cit>
                <quote>&#x201E;haben. Es i&#x017F;t die&#x017F;er hu&#x0364;lflo&#x017F;e Zu&#x017F;tand eines<lb/>
&#x201E;&#x017F;chwachen Alters ein &#x017F;anfter, allma&#x0364;hliger Ueber-<lb/>
&#x201E;gang durch neue Kindheit in den Leib der<lb/>
&#x201E;Mutter &#x2014; in die Erde. Und die&#x017F;er neue<lb/>
&#x201E;Zu&#x017F;tand des Ungebohrnen, wo in &#x017F;tiller Auflo&#x0364;-<lb/>
&#x201E;&#x017F;ung der letzten Bande, in des Grabes tiefem,<lb/>
&#x201E;letzten Schlummer, die Keime eines ho&#x0364;hern<lb/>
&#x201E;Da&#x017F;eyns aus der Ga&#x0364;hrung des Alten bereitet<lb/>
&#x201E;werden, entla&#x0364;ßt jenen, &#x017F;chon bey &#x017F;cheinbarem<lb/>
&#x201E;Leben Einge&#x017F;chlummerten fru&#x0364;her und leichter<lb/>
&#x201E;zur neuen Erga&#x0364;nzung. Wenn uns dann end-<lb/>
&#x201E;lich, mit der letzten Kraft der Jugend, alle<lb/>
&#x201E;Gefa&#x0364;hrten, alle Freuden einer be&#x017F;&#x017F;ern Zeit ge-<lb/>
&#x201E;&#x017F;torben, wenn uns ohne Genuß und innre<lb/>
&#x201E;Wa&#x0364;rme, verwai&#x017F;&#x2019;t an fremder Liebe und Mit-<lb/>
&#x201E;leid, ja verge&#x017F;&#x017F;en von der mit uns lebenden<lb/>
&#x201E;Welt, kaum noch das dumpfe Gefu&#x0364;hl un&#x017F;rer<lb/>
&#x201E;Kraftlo&#x017F;igkeit geblieben, &#x017F;ind wir am wenig&#x017F;ten<lb/>
&#x201E;von jener ewigen Gu&#x0364;te verla&#x017F;&#x017F;en, welche u&#x0364;ber<lb/>
&#x201E;das Schwache und Verlaßne, u&#x0364;ber das zarte<lb/>
&#x201E;Beginnen der Kindheit und u&#x0364;ber hu&#x0364;lflo&#x017F;es<lb/>
&#x201E;Alter am va&#x0364;terlich&#x017F;ten wacht. Und wenn<lb/>
&#x201E;&#x017F;elb&#x017F;t die noch u&#x0364;briggebliebnen Freunde an der<lb/>
&#x201E;Gruft &#x017F;chieden, wird jene Hand treulich u&#x0364;ber<lb/>
&#x201E;uns bleiben, welche uns ein&#x017F;t im Mutterleibe<lb/>
&#x201E;gebildet. Das Leben i&#x017F;t vergangen, &#x017F;eine Erin-<lb/>
&#x201E;nerungen kehren nicht wieder, und ein Zu&#x017F;tand</quote>
              </cit>
            </note>
          </p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[396/0413] nicht beruͤhrt hat, weil er es zu ſeiner Zeit nicht wiſſen, ja kaum ahnen konnte, denn Regnier ſagt in ſeiner fuͤnften Satyre: **) **) „haben. Es iſt dieſer huͤlfloſe Zuſtand eines „ſchwachen Alters ein ſanfter, allmaͤhliger Ueber- „gang durch neue Kindheit in den Leib der „Mutter — in die Erde. Und dieſer neue „Zuſtand des Ungebohrnen, wo in ſtiller Aufloͤ- „ſung der letzten Bande, in des Grabes tiefem, „letzten Schlummer, die Keime eines hoͤhern „Daſeyns aus der Gaͤhrung des Alten bereitet „werden, entlaͤßt jenen, ſchon bey ſcheinbarem „Leben Eingeſchlummerten fruͤher und leichter „zur neuen Ergaͤnzung. Wenn uns dann end- „lich, mit der letzten Kraft der Jugend, alle „Gefaͤhrten, alle Freuden einer beſſern Zeit ge- „ſtorben, wenn uns ohne Genuß und innre „Waͤrme, verwaiſ’t an fremder Liebe und Mit- „leid, ja vergeſſen von der mit uns lebenden „Welt, kaum noch das dumpfe Gefuͤhl unſrer „Kraftloſigkeit geblieben, ſind wir am wenigſten „von jener ewigen Guͤte verlaſſen, welche uͤber „das Schwache und Verlaßne, uͤber das zarte „Beginnen der Kindheit und uͤber huͤlfloſes „Alter am vaͤterlichſten wacht. Und wenn „ſelbſt die noch uͤbriggebliebnen Freunde an der „Gruft ſchieden, wird jene Hand treulich uͤber „uns bleiben, welche uns einſt im Mutterleibe „gebildet. Das Leben iſt vergangen, ſeine Erin- „nerungen kehren nicht wieder, und ein Zuſtand

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/413
Zitationshilfe: Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/413>, abgerufen am 22.11.2024.