Liegt es blos an der Schwäche des hohen Alters und an seiner absoluten Unfä- higkeit zu manchen leiblichen und geistigen Genüssen, oder liegt es an der warnenden Wiedererinnerung des vielen schon Erlebten, daß es beynah unvermögend ist, neue Freund- schaften zu schlüßen, ja selbst die in spätern Jahren angeknüpften gehörig fortzusetzen? Führt etwa der Spiritus Rektor, der dem Dicasterio der Seelenfähigkeiten vorsteht, im hohen Alter sein Regiment mit härterm Ei- gensinn, und hält er Verstand, Willen, Einbildungskraft und Empfindung so streng im Zügel, daß keines von ihnen seinen eig- nen Schritt fortgehen und sich über irgend etwas nach Belieben ein und auslassen kann?
Einbildungskraft und Empfindung sind die Wählerinnen in der Freundschaft, und ob sich gleich der Verstand das Bestätigungs- recht zueignet, so ergiebt sich doch der Wille, dieser Stiefbruder des Eigensiuns, selten sei- nes Einspruchrechts und läßt es sich noch seltner nehmen, so daß mehrentheils dem Willen und dem Eigensinn die endliche Ent- scheidung überlassen bleibt: es dürfte daher wohl im Eigensinn, der mit den Jahren so lange zunimmt, bis der Marasmus senilis
Liegt es blos an der Schwaͤche des hohen Alters und an ſeiner abſoluten Unfaͤ- higkeit zu manchen leiblichen und geiſtigen Genuͤſſen, oder liegt es an der warnenden Wiedererinnerung des vielen ſchon Erlebten, daß es beynah unvermoͤgend iſt, neue Freund- ſchaften zu ſchluͤßen, ja ſelbſt die in ſpaͤtern Jahren angeknuͤpften gehoͤrig fortzuſetzen? Fuͤhrt etwa der Spiritus Rektor, der dem Dicaſterio der Seelenfaͤhigkeiten vorſteht, im hohen Alter ſein Regiment mit haͤrterm Ei- genſinn, und haͤlt er Verſtand, Willen, Einbildungskraft und Empfindung ſo ſtreng im Zuͤgel, daß keines von ihnen ſeinen eig- nen Schritt fortgehen und ſich uͤber irgend etwas nach Belieben ein und auslaſſen kann?
Einbildungskraft und Empfindung ſind die Waͤhlerinnen in der Freundſchaft, und ob ſich gleich der Verſtand das Beſtaͤtigungs- recht zueignet, ſo ergiebt ſich doch der Wille, dieſer Stiefbruder des Eigenſiuns, ſelten ſei- nes Einſpruchrechts und laͤßt es ſich noch ſeltner nehmen, ſo daß mehrentheils dem Willen und dem Eigenſinn die endliche Ent- ſcheidung uͤberlaſſen bleibt: es duͤrfte daher wohl im Eigenſinn, der mit den Jahren ſo lange zunimmt, bis der Marasmus ſenilis
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0430"n="413"/><p>Liegt es blos an der Schwaͤche des<lb/>
hohen Alters und an ſeiner abſoluten Unfaͤ-<lb/>
higkeit zu manchen leiblichen und geiſtigen<lb/>
Genuͤſſen, oder liegt es an der warnenden<lb/>
Wiedererinnerung des vielen ſchon Erlebten,<lb/>
daß es beynah unvermoͤgend iſt, neue Freund-<lb/>ſchaften zu ſchluͤßen, ja ſelbſt die in ſpaͤtern<lb/>
Jahren angeknuͤpften gehoͤrig fortzuſetzen?<lb/>
Fuͤhrt etwa der Spiritus Rektor, der dem<lb/>
Dicaſterio der Seelenfaͤhigkeiten vorſteht, im<lb/>
hohen Alter ſein Regiment mit haͤrterm Ei-<lb/>
genſinn, und haͤlt er Verſtand, Willen,<lb/>
Einbildungskraft und Empfindung ſo ſtreng<lb/>
im Zuͤgel, daß keines von ihnen ſeinen eig-<lb/>
nen Schritt fortgehen und ſich uͤber irgend<lb/>
etwas nach Belieben ein und auslaſſen kann?</p><lb/><p>Einbildungskraft und Empfindung ſind<lb/>
die Waͤhlerinnen in der Freundſchaft, und<lb/>
ob ſich gleich der Verſtand das Beſtaͤtigungs-<lb/>
recht zueignet, ſo ergiebt ſich doch der Wille,<lb/>
dieſer Stiefbruder des Eigenſiuns, ſelten ſei-<lb/>
nes Einſpruchrechts und laͤßt es ſich noch<lb/>ſeltner nehmen, ſo daß mehrentheils dem<lb/>
Willen und dem Eigenſinn die endliche Ent-<lb/>ſcheidung uͤberlaſſen bleibt: es duͤrfte daher<lb/>
wohl im Eigenſinn, der mit den Jahren ſo<lb/>
lange zunimmt, bis der Marasmus ſenilis<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[413/0430]
Liegt es blos an der Schwaͤche des
hohen Alters und an ſeiner abſoluten Unfaͤ-
higkeit zu manchen leiblichen und geiſtigen
Genuͤſſen, oder liegt es an der warnenden
Wiedererinnerung des vielen ſchon Erlebten,
daß es beynah unvermoͤgend iſt, neue Freund-
ſchaften zu ſchluͤßen, ja ſelbſt die in ſpaͤtern
Jahren angeknuͤpften gehoͤrig fortzuſetzen?
Fuͤhrt etwa der Spiritus Rektor, der dem
Dicaſterio der Seelenfaͤhigkeiten vorſteht, im
hohen Alter ſein Regiment mit haͤrterm Ei-
genſinn, und haͤlt er Verſtand, Willen,
Einbildungskraft und Empfindung ſo ſtreng
im Zuͤgel, daß keines von ihnen ſeinen eig-
nen Schritt fortgehen und ſich uͤber irgend
etwas nach Belieben ein und auslaſſen kann?
Einbildungskraft und Empfindung ſind
die Waͤhlerinnen in der Freundſchaft, und
ob ſich gleich der Verſtand das Beſtaͤtigungs-
recht zueignet, ſo ergiebt ſich doch der Wille,
dieſer Stiefbruder des Eigenſiuns, ſelten ſei-
nes Einſpruchrechts und laͤßt es ſich noch
ſeltner nehmen, ſo daß mehrentheils dem
Willen und dem Eigenſinn die endliche Ent-
ſcheidung uͤberlaſſen bleibt: es duͤrfte daher
wohl im Eigenſinn, der mit den Jahren ſo
lange zunimmt, bis der Marasmus ſenilis
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/430>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.