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Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823.

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Sehr lebhaft erinnere ich mich noch, daß
meine kleingestaltete Mutter mich bis ins
14te Jahr im Laufen übertraf, ob ich gleich
im Wettrennen mit andern mehrentheils den
Preiß davon trug.

Der Gesellschaftskreis meiner Eltern war
sehr eingeschränkt, und vermuthlich schreibt
sich aus dieser einsiedlerischen Kindheit eine
Art von Verlegenheit her, die mir selbst in
meinen ersten Dienstjahren noch anklebte,
ja mich noch jetzt, besonders in einer etwas
großen Gesellschaft, anwandelt, indessen aber
auch mein von Jugend an sehr kurzes Ge-
sicht zur Mitursache hat, welches letztre Uebel
man mir vielleicht hätte ersparen können,
wenn man mir nicht erlaubt hätte, oft in
der Dämmerung und bey schwachem Lichte
auf der Schiefertafel zu kritzeln und den
Kopf tief auf letztre zu beugen. Mein Vater
erschrack nicht wenig, als er in meinem
10ten oder 11ten Jahre mir nach der Thurm-
uhr zu sehen befahl, und ich ihm sagte, daß
ich kaum die Scheibe erkennte. Meine Au-
gen bedürfen indessen dieser frühern Kurz-
sichtigkeit ungeachtet bis jetzt noch (1814.)
keiner Brille, und haben von jeher so genau
das Schiefe vom Geraden zu unterscheiden

Sehr lebhaft erinnere ich mich noch, daß
meine kleingeſtaltete Mutter mich bis ins
14te Jahr im Laufen uͤbertraf, ob ich gleich
im Wettrennen mit andern mehrentheils den
Preiß davon trug.

Der Geſellſchaftskreis meiner Eltern war
ſehr eingeſchraͤnkt, und vermuthlich ſchreibt
ſich aus dieſer einſiedleriſchen Kindheit eine
Art von Verlegenheit her, die mir ſelbſt in
meinen erſten Dienſtjahren noch anklebte,
ja mich noch jetzt, beſonders in einer etwas
großen Geſellſchaft, anwandelt, indeſſen aber
auch mein von Jugend an ſehr kurzes Ge-
ſicht zur Miturſache hat, welches letztre Uebel
man mir vielleicht haͤtte erſparen koͤnnen,
wenn man mir nicht erlaubt haͤtte, oft in
der Daͤmmerung und bey ſchwachem Lichte
auf der Schiefertafel zu kritzeln und den
Kopf tief auf letztre zu beugen. Mein Vater
erſchrack nicht wenig, als er in meinem
10ten oder 11ten Jahre mir nach der Thurm-
uhr zu ſehen befahl, und ich ihm ſagte, daß
ich kaum die Scheibe erkennte. Meine Au-
gen beduͤrfen indeſſen dieſer fruͤhern Kurz-
ſichtigkeit ungeachtet bis jetzt noch (1814.)
keiner Brille, und haben von jeher ſo genau
das Schiefe vom Geraden zu unterſcheiden

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[30/0047] Sehr lebhaft erinnere ich mich noch, daß meine kleingeſtaltete Mutter mich bis ins 14te Jahr im Laufen uͤbertraf, ob ich gleich im Wettrennen mit andern mehrentheils den Preiß davon trug. Der Geſellſchaftskreis meiner Eltern war ſehr eingeſchraͤnkt, und vermuthlich ſchreibt ſich aus dieſer einſiedleriſchen Kindheit eine Art von Verlegenheit her, die mir ſelbſt in meinen erſten Dienſtjahren noch anklebte, ja mich noch jetzt, beſonders in einer etwas großen Geſellſchaft, anwandelt, indeſſen aber auch mein von Jugend an ſehr kurzes Ge- ſicht zur Miturſache hat, welches letztre Uebel man mir vielleicht haͤtte erſparen koͤnnen, wenn man mir nicht erlaubt haͤtte, oft in der Daͤmmerung und bey ſchwachem Lichte auf der Schiefertafel zu kritzeln und den Kopf tief auf letztre zu beugen. Mein Vater erſchrack nicht wenig, als er in meinem 10ten oder 11ten Jahre mir nach der Thurm- uhr zu ſehen befahl, und ich ihm ſagte, daß ich kaum die Scheibe erkennte. Meine Au- gen beduͤrfen indeſſen dieſer fruͤhern Kurz- ſichtigkeit ungeachtet bis jetzt noch (1814.) keiner Brille, und haben von jeher ſo genau das Schiefe vom Geraden zu unterſcheiden

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Zitationshilfe: Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/47>, abgerufen am 06.05.2024.