Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823.

Bild:
<< vorherige Seite

des Gebäudes schlecht gelegt war. Vorzüglich bemerke
man den geheimen Feind, der uns mit folgte, unsre
kiebste Eigenheit, sobald sie wider Plan und Re-
gel war. Sie zeichnete uns immer aus, machte uns
oft anstoßen, noch mehr vergessen, noch mehr ver-
säumen. Jn jugendlichen Jahren sehen die Menschen
ihr nach, bewundern sie gar lächelnd. Jm ernstlichen
Alter richten und strafen sie solche desto unerbittlicher,
desto schärfer. Wohl ihm, den die Bersehung hierin
nicht verzärtelte, dem sie frühe scharfe Censoren weckte!
und wohl ihm, der das scharfe Regelmaas der Censur
nutzte! Berzärtelte Lieblinge des Schicksals sind in
spätern Jahren sich und andern zur Last, ihre nicht
abgeriebnen Ecken und Breiten drücken und verwunden.
Dagegen ist nichts liebenswürdiger, als die gelehrige,
sanfte Gemüthsart eines Menschen, der sich selbst
überwinden, sich selbst ablegen, der das Joch in seiner
Jugend tragen lernte. Non ignara mali miseris
succurrere disco
(Selbst bekannt mit dem Unglück
lernt ich Unglücklichen beystehn. Virgil) ist vielleicht
die zarteste Sentenz, die je eine menschliche Lippe
sprach, mit den innigsten Banden ziehet sie schwache
an starke, hülflose an hülfreiche Menschen und macht
beyde durch einander glücklich.

5) Es ist ein Naturgesetz im Gange des menschlichen
Schicksals, daß wie, früher oder später, jeder
Fehler in den Folgen sichtbar werden muß,
alle Unregelmäßigkeiten unsers Charak-
ters durch Anstöße uns fühlbar werden,

denn auf Ordnung und Harmonie ist die Welt gebaut.
Gegenseits ist auch kein edles Bestreben, das sich nicht
durch sich und in seinen Folgen lohne. Vor allem
lohnen Wohlgefallen, Großmuth, Liebe;

des Gebaͤudes ſchlecht gelegt war. Vorzuͤglich bemerke
man den geheimen Feind, der uns mit folgte, unſre
kiebſte Eigenheit, ſobald ſie wider Plan und Re-
gel war. Sie zeichnete uns immer aus, machte uns
oft anſtoßen, noch mehr vergeſſen, noch mehr ver-
ſaͤumen. Jn jugendlichen Jahren ſehen die Menſchen
ihr nach, bewundern ſie gar laͤchelnd. Jm ernſtlichen
Alter richten und ſtrafen ſie ſolche deſto unerbittlicher,
deſto ſchaͤrfer. Wohl ihm, den die Berſehung hierin
nicht verzaͤrtelte, dem ſie fruͤhe ſcharfe Cenſoren weckte!
und wohl ihm, der das ſcharfe Regelmaas der Cenſur
nutzte! Berzaͤrtelte Lieblinge des Schickſals ſind in
ſpaͤtern Jahren ſich und andern zur Laſt, ihre nicht
abgeriebnen Ecken und Breiten druͤcken und verwunden.
Dagegen iſt nichts liebenswuͤrdiger, als die gelehrige,
ſanfte Gemuͤthsart eines Menſchen, der ſich ſelbſt
uͤberwinden, ſich ſelbſt ablegen, der das Joch in ſeiner
Jugend tragen lernte. Non ignara mali miſeris
ſuccurrere diſco
(Selbſt bekannt mit dem Ungluͤck
lernt ich Ungluͤcklichen beyſtehn. Virgil) iſt vielleicht
die zarteſte Sentenz, die je eine menſchliche Lippe
ſprach, mit den innigſten Banden ziehet ſie ſchwache
an ſtarke, huͤlfloſe an huͤlfreiche Menſchen und macht
beyde durch einander gluͤcklich.

5) Es iſt ein Naturgeſetz im Gange des menſchlichen
Schickſals, daß wie, fruͤher oder ſpaͤter, jeder
Fehler in den Folgen ſichtbar werden muß,
alle Unregelmaͤßigkeiten unſers Charak-
ters durch Anſtoͤße uns fuͤhlbar werden,

denn auf Ordnung und Harmonie iſt die Welt gebaut.
Gegenſeits iſt auch kein edles Beſtreben, das ſich nicht
durch ſich und in ſeinen Folgen lohne. Vor allem
lohnen Wohlgefallen, Großmuth, Liebe;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0541"/>
des Geba&#x0364;udes &#x017F;chlecht gelegt war. Vorzu&#x0364;glich bemerke<lb/>
man den geheimen Feind, der uns mit folgte, un&#x017F;re<lb/><hi rendition="#g">kieb&#x017F;te Eigenheit,</hi> &#x017F;obald &#x017F;ie wider Plan und Re-<lb/>
gel war. Sie zeichnete uns immer aus, machte uns<lb/>
oft an&#x017F;toßen, noch mehr verge&#x017F;&#x017F;en, noch mehr ver-<lb/>
&#x017F;a&#x0364;umen. Jn jugendlichen Jahren &#x017F;ehen die Men&#x017F;chen<lb/>
ihr nach, bewundern &#x017F;ie gar la&#x0364;chelnd. Jm ern&#x017F;tlichen<lb/>
Alter richten und &#x017F;trafen &#x017F;ie &#x017F;olche de&#x017F;to unerbittlicher,<lb/>
de&#x017F;to &#x017F;cha&#x0364;rfer. Wohl ihm, den die Ber&#x017F;ehung hierin<lb/>
nicht verza&#x0364;rtelte, dem &#x017F;ie fru&#x0364;he &#x017F;charfe Cen&#x017F;oren weckte!<lb/>
und wohl ihm, der das &#x017F;charfe Regelmaas der Cen&#x017F;ur<lb/>
nutzte! Berza&#x0364;rtelte Lieblinge des Schick&#x017F;als &#x017F;ind in<lb/>
&#x017F;pa&#x0364;tern Jahren &#x017F;ich und andern zur La&#x017F;t, ihre nicht<lb/>
abgeriebnen Ecken und Breiten dru&#x0364;cken und verwunden.<lb/>
Dagegen i&#x017F;t nichts liebenswu&#x0364;rdiger, als die gelehrige,<lb/>
&#x017F;anfte Gemu&#x0364;thsart eines Men&#x017F;chen, der &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
u&#x0364;berwinden, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t ablegen, der das Joch in &#x017F;einer<lb/>
Jugend tragen lernte. <hi rendition="#aq">Non ignara mali mi&#x017F;eris<lb/>
&#x017F;uccurrere di&#x017F;co</hi> (Selb&#x017F;t bekannt mit dem Unglu&#x0364;ck<lb/>
lernt ich Unglu&#x0364;cklichen bey&#x017F;tehn. Virgil) i&#x017F;t vielleicht<lb/>
die zarte&#x017F;te Sentenz, die je eine men&#x017F;chliche Lippe<lb/>
&#x017F;prach, mit den innig&#x017F;ten Banden ziehet &#x017F;ie &#x017F;chwache<lb/>
an &#x017F;tarke, hu&#x0364;lflo&#x017F;e an hu&#x0364;lfreiche Men&#x017F;chen und macht<lb/>
beyde durch einander glu&#x0364;cklich.</p><lb/>
            <p>5) Es i&#x017F;t ein Naturge&#x017F;etz im Gange des men&#x017F;chlichen<lb/>
Schick&#x017F;als, <hi rendition="#g">daß wie, fru&#x0364;her oder &#x017F;pa&#x0364;ter, jeder<lb/>
Fehler in den Folgen &#x017F;ichtbar werden muß,<lb/>
alle Unregelma&#x0364;ßigkeiten un&#x017F;ers Charak-<lb/>
ters durch An&#x017F;to&#x0364;ße uns fu&#x0364;hlbar werden,</hi><lb/>
denn auf Ordnung und Harmonie i&#x017F;t die Welt gebaut.<lb/>
Gegen&#x017F;eits i&#x017F;t auch kein edles Be&#x017F;treben, das &#x017F;ich nicht<lb/>
durch &#x017F;ich und in &#x017F;einen Folgen lohne. Vor allem<lb/>
lohnen <hi rendition="#g">Wohlgefallen, Großmuth, Liebe;</hi><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0541] des Gebaͤudes ſchlecht gelegt war. Vorzuͤglich bemerke man den geheimen Feind, der uns mit folgte, unſre kiebſte Eigenheit, ſobald ſie wider Plan und Re- gel war. Sie zeichnete uns immer aus, machte uns oft anſtoßen, noch mehr vergeſſen, noch mehr ver- ſaͤumen. Jn jugendlichen Jahren ſehen die Menſchen ihr nach, bewundern ſie gar laͤchelnd. Jm ernſtlichen Alter richten und ſtrafen ſie ſolche deſto unerbittlicher, deſto ſchaͤrfer. Wohl ihm, den die Berſehung hierin nicht verzaͤrtelte, dem ſie fruͤhe ſcharfe Cenſoren weckte! und wohl ihm, der das ſcharfe Regelmaas der Cenſur nutzte! Berzaͤrtelte Lieblinge des Schickſals ſind in ſpaͤtern Jahren ſich und andern zur Laſt, ihre nicht abgeriebnen Ecken und Breiten druͤcken und verwunden. Dagegen iſt nichts liebenswuͤrdiger, als die gelehrige, ſanfte Gemuͤthsart eines Menſchen, der ſich ſelbſt uͤberwinden, ſich ſelbſt ablegen, der das Joch in ſeiner Jugend tragen lernte. Non ignara mali miſeris ſuccurrere diſco (Selbſt bekannt mit dem Ungluͤck lernt ich Ungluͤcklichen beyſtehn. Virgil) iſt vielleicht die zarteſte Sentenz, die je eine menſchliche Lippe ſprach, mit den innigſten Banden ziehet ſie ſchwache an ſtarke, huͤlfloſe an huͤlfreiche Menſchen und macht beyde durch einander gluͤcklich. 5) Es iſt ein Naturgeſetz im Gange des menſchlichen Schickſals, daß wie, fruͤher oder ſpaͤter, jeder Fehler in den Folgen ſichtbar werden muß, alle Unregelmaͤßigkeiten unſers Charak- ters durch Anſtoͤße uns fuͤhlbar werden, denn auf Ordnung und Harmonie iſt die Welt gebaut. Gegenſeits iſt auch kein edles Beſtreben, das ſich nicht durch ſich und in ſeinen Folgen lohne. Vor allem lohnen Wohlgefallen, Großmuth, Liebe;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/541
Zitationshilfe: Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/541>, abgerufen am 25.11.2024.