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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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des römischen Reichs, beginnt eigentlich zuerst, was wir Universal-
historie nennen können. Jenseits desselben ist, wie in dem Theil des
Universums, der die reale Seite desselben darstellt, das Besondere
herrschend; ein besonderes Volk, wie das der Griechen, wohnend in
engen Grenzen und auf wenigen Eilanden, ist dort die Gattung, hier
dagegen wird das Allgemeine herrschend und das Besondere zerfällt
darin.

Die ganze alte Geschichte kann als die tragische Periode der Ge-
schichte betrachtet werden. Auch das Schicksal ist Vorsehung, aber im
Realen angeschaut, so wie die Vorsehung das Schicksal ist, aber im
Idealen angeschaut. Die ewige Nothwendigkeit offenbart sich in der
Zeit der Identität mit ihr als Natur. So in den Griechen. Mit
dem Abfall von ihr offenbart sie sich als Schicksal in herben und ge-
waltigen Schlägen. Um sich dem Schicksal zu entziehen, ist nur Ein
Mittel, sich in die Arme der Vorsehung zu werfen. Dieß war das
Gefühl der Welt in jener Periode der tiefsten Umwandlung, als das
Schicksal an allem Schönen und Herrlichen des Alterthums seine letzte
Tücke übte. Da verloren die alten Götter ihre Kraft, die Orakel
schwiegen, die Feste verstummten und ein bodenloser Abgrund voll wilder
Vermischung aller Elemente der gewesenen Welt schien sich vor dem
menschlichen Geschlecht zu öffnen. Ueber diesem finstern Abgrund er-
schien als das einzige Zeichen des Friedens und des Gleichgewichts
der Kräfte das Kreuz, gleichsam der Regenbogen einer zweiten Sünd-
fluth, wie es ein spanischer Dichter nennt, -- zu einer Zeit, wo keine
Wahl übrig blieb, an dieses Zeichen zu glauben. Wie nun aus diesem
trüben Stoff sich endlich die zweite Welt der Poesie losgewunden, wie
er sich zu einem mythischen Stoff gebildet hat, davon werde ich die
Hauptzüge wenigstens angeben. (Wenn ich die ganze Totalität des
mythischen Stoffs, der im Christenthum liegt, dargestellt haben werde,
werde ich das Resultat des Ganzen wieder zu wenigen Hauptsätzen
vereinigt darlegen können).

Um die Mythologie des Christenthums in ihrem Princip zu fassen,
gehen wir auf den Punkt ihrer Entgegensetzung mit der griechischen

des römiſchen Reichs, beginnt eigentlich zuerſt, was wir Univerſal-
hiſtorie nennen können. Jenſeits deſſelben iſt, wie in dem Theil des
Univerſums, der die reale Seite deſſelben darſtellt, das Beſondere
herrſchend; ein beſonderes Volk, wie das der Griechen, wohnend in
engen Grenzen und auf wenigen Eilanden, iſt dort die Gattung, hier
dagegen wird das Allgemeine herrſchend und das Beſondere zerfällt
darin.

Die ganze alte Geſchichte kann als die tragiſche Periode der Ge-
ſchichte betrachtet werden. Auch das Schickſal iſt Vorſehung, aber im
Realen angeſchaut, ſo wie die Vorſehung das Schickſal iſt, aber im
Idealen angeſchaut. Die ewige Nothwendigkeit offenbart ſich in der
Zeit der Identität mit ihr als Natur. So in den Griechen. Mit
dem Abfall von ihr offenbart ſie ſich als Schickſal in herben und ge-
waltigen Schlägen. Um ſich dem Schickſal zu entziehen, iſt nur Ein
Mittel, ſich in die Arme der Vorſehung zu werfen. Dieß war das
Gefühl der Welt in jener Periode der tiefſten Umwandlung, als das
Schickſal an allem Schönen und Herrlichen des Alterthums ſeine letzte
Tücke übte. Da verloren die alten Götter ihre Kraft, die Orakel
ſchwiegen, die Feſte verſtummten und ein bodenloſer Abgrund voll wilder
Vermiſchung aller Elemente der geweſenen Welt ſchien ſich vor dem
menſchlichen Geſchlecht zu öffnen. Ueber dieſem finſtern Abgrund er-
ſchien als das einzige Zeichen des Friedens und des Gleichgewichts
der Kräfte das Kreuz, gleichſam der Regenbogen einer zweiten Sünd-
fluth, wie es ein ſpaniſcher Dichter nennt, — zu einer Zeit, wo keine
Wahl übrig blieb, an dieſes Zeichen zu glauben. Wie nun aus dieſem
trüben Stoff ſich endlich die zweite Welt der Poeſie losgewunden, wie
er ſich zu einem mythiſchen Stoff gebildet hat, davon werde ich die
Hauptzüge wenigſtens angeben. (Wenn ich die ganze Totalität des
mythiſchen Stoffs, der im Chriſtenthum liegt, dargeſtellt haben werde,
werde ich das Reſultat des Ganzen wieder zu wenigen Hauptſätzen
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[429/0105] des römiſchen Reichs, beginnt eigentlich zuerſt, was wir Univerſal- hiſtorie nennen können. Jenſeits deſſelben iſt, wie in dem Theil des Univerſums, der die reale Seite deſſelben darſtellt, das Beſondere herrſchend; ein beſonderes Volk, wie das der Griechen, wohnend in engen Grenzen und auf wenigen Eilanden, iſt dort die Gattung, hier dagegen wird das Allgemeine herrſchend und das Beſondere zerfällt darin. Die ganze alte Geſchichte kann als die tragiſche Periode der Ge- ſchichte betrachtet werden. Auch das Schickſal iſt Vorſehung, aber im Realen angeſchaut, ſo wie die Vorſehung das Schickſal iſt, aber im Idealen angeſchaut. Die ewige Nothwendigkeit offenbart ſich in der Zeit der Identität mit ihr als Natur. So in den Griechen. Mit dem Abfall von ihr offenbart ſie ſich als Schickſal in herben und ge- waltigen Schlägen. Um ſich dem Schickſal zu entziehen, iſt nur Ein Mittel, ſich in die Arme der Vorſehung zu werfen. Dieß war das Gefühl der Welt in jener Periode der tiefſten Umwandlung, als das Schickſal an allem Schönen und Herrlichen des Alterthums ſeine letzte Tücke übte. Da verloren die alten Götter ihre Kraft, die Orakel ſchwiegen, die Feſte verſtummten und ein bodenloſer Abgrund voll wilder Vermiſchung aller Elemente der geweſenen Welt ſchien ſich vor dem menſchlichen Geſchlecht zu öffnen. Ueber dieſem finſtern Abgrund er- ſchien als das einzige Zeichen des Friedens und des Gleichgewichts der Kräfte das Kreuz, gleichſam der Regenbogen einer zweiten Sünd- fluth, wie es ein ſpaniſcher Dichter nennt, — zu einer Zeit, wo keine Wahl übrig blieb, an dieſes Zeichen zu glauben. Wie nun aus dieſem trüben Stoff ſich endlich die zweite Welt der Poeſie losgewunden, wie er ſich zu einem mythiſchen Stoff gebildet hat, davon werde ich die Hauptzüge wenigſtens angeben. (Wenn ich die ganze Totalität des mythiſchen Stoffs, der im Chriſtenthum liegt, dargeſtellt haben werde, werde ich das Reſultat des Ganzen wieder zu wenigen Hauptſätzen vereinigt darlegen können). Um die Mythologie des Chriſtenthums in ihrem Princip zu faſſen, gehen wir auf den Punkt ihrer Entgegenſetzung mit der griechiſchen

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/105>, abgerufen am 28.11.2024.