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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Deutsche sind ihm ganz besonders viel Obligation schuldig, da wir ihm
unsere mythologische Hauptperson, den Doktor Faust, verdanken. An-
dere theilen wir mit anderen Nationen, diesen haben wir ganz für uns
allein, da er recht aus der Mitte des deutschen Charakters und seiner
Grundphysiognomie wie geschnitten ist).

Unter einem Volk, in dessen Poesie die Begrenzung, das Endliche,
herrschend ist, ist die Mythologie und die Religion Sache der Gattung.
Das Individuum kann sich zur Gattung constituiren und wahrhaft mit
ihr eins seyn, wo dagegen das Unendliche, das Allgemeine herrschend
ist, kann das Individuum nie zugleich zur Gattung werden, es ist
Negation der Gattung. Hier kann also die Religion nur durch den
Einfluß einzelner von überlegener Weisheit sich verbreiten, die nur
persönlich vom Allgemeinen und Unendlichen erfüllt, demnach Propheten,
Seher, gottbegeisterte Menschen sind. Die Religion nimmt hier noth-
wendig den Charakter einer geoffenbarten Religion an, und ist
darum schon in ihrem Fundament historisch. Die griechische Religion,
als poetische, durch die Gattung lebende Religion, bedurfte keiner histo-
rischen Grundlage, so wenig als es die immer offene Natur bedarf.
Die Erscheinungen und Gestalten der Götter waren hier ewig; dort,
im Christenthum, war das Göttliche nur flüchtige Erscheinung und
mußte in dieser festgehalten werden. In Griechenland hatte die Reli-
gion keine eigne, von der des Staats unabhängige Geschichte; im
Christenthum gibt es eine Geschichte der Religion und der Kirche.

Von dem Begriff der Offenbarung ist der des Wunders unzer-
trennlich. Wie der griechische Sinn nach allen Seiten hin reine, schöne
Begrenzung forderte, um die ganze Welt für sich zu einer Welt der
Phantasie zu erheben, so der orientalische nach allen Seiten hin das
Unbegrenzte, das Uebernatürliche, und er fordert auch dieses in einer
gewissen Totalität, um von keiner Seite aus seinen übersinnlichen
Träumen geweckt zu werden. Der Begriff des Wunders ist in der
griechischen Mythologie unmöglich, denn die Götter sind da selbst nicht
außer- und übernatürlich, es sind da nicht zwei Welten, eine sinnliche
und übersinnliche, sondern Eine Welt. Das Christenthum, welches

Deutſche ſind ihm ganz beſonders viel Obligation ſchuldig, da wir ihm
unſere mythologiſche Hauptperſon, den Doktor Fauſt, verdanken. An-
dere theilen wir mit anderen Nationen, dieſen haben wir ganz für uns
allein, da er recht aus der Mitte des deutſchen Charakters und ſeiner
Grundphyſiognomie wie geſchnitten iſt).

Unter einem Volk, in deſſen Poeſie die Begrenzung, das Endliche,
herrſchend iſt, iſt die Mythologie und die Religion Sache der Gattung.
Das Individuum kann ſich zur Gattung conſtituiren und wahrhaft mit
ihr eins ſeyn, wo dagegen das Unendliche, das Allgemeine herrſchend
iſt, kann das Individuum nie zugleich zur Gattung werden, es iſt
Negation der Gattung. Hier kann alſo die Religion nur durch den
Einfluß einzelner von überlegener Weisheit ſich verbreiten, die nur
perſönlich vom Allgemeinen und Unendlichen erfüllt, demnach Propheten,
Seher, gottbegeiſterte Menſchen ſind. Die Religion nimmt hier noth-
wendig den Charakter einer geoffenbarten Religion an, und iſt
darum ſchon in ihrem Fundament hiſtoriſch. Die griechiſche Religion,
als poetiſche, durch die Gattung lebende Religion, bedurfte keiner hiſto-
riſchen Grundlage, ſo wenig als es die immer offene Natur bedarf.
Die Erſcheinungen und Geſtalten der Götter waren hier ewig; dort,
im Chriſtenthum, war das Göttliche nur flüchtige Erſcheinung und
mußte in dieſer feſtgehalten werden. In Griechenland hatte die Reli-
gion keine eigne, von der des Staats unabhängige Geſchichte; im
Chriſtenthum gibt es eine Geſchichte der Religion und der Kirche.

Von dem Begriff der Offenbarung iſt der des Wunders unzer-
trennlich. Wie der griechiſche Sinn nach allen Seiten hin reine, ſchöne
Begrenzung forderte, um die ganze Welt für ſich zu einer Welt der
Phantaſie zu erheben, ſo der orientaliſche nach allen Seiten hin das
Unbegrenzte, das Uebernatürliche, und er fordert auch dieſes in einer
gewiſſen Totalität, um von keiner Seite aus ſeinen überſinnlichen
Träumen geweckt zu werden. Der Begriff des Wunders iſt in der
griechiſchen Mythologie unmöglich, denn die Götter ſind da ſelbſt nicht
außer- und übernatürlich, es ſind da nicht zwei Welten, eine ſinnliche
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[438/0114] Deutſche ſind ihm ganz beſonders viel Obligation ſchuldig, da wir ihm unſere mythologiſche Hauptperſon, den Doktor Fauſt, verdanken. An- dere theilen wir mit anderen Nationen, dieſen haben wir ganz für uns allein, da er recht aus der Mitte des deutſchen Charakters und ſeiner Grundphyſiognomie wie geſchnitten iſt). Unter einem Volk, in deſſen Poeſie die Begrenzung, das Endliche, herrſchend iſt, iſt die Mythologie und die Religion Sache der Gattung. Das Individuum kann ſich zur Gattung conſtituiren und wahrhaft mit ihr eins ſeyn, wo dagegen das Unendliche, das Allgemeine herrſchend iſt, kann das Individuum nie zugleich zur Gattung werden, es iſt Negation der Gattung. Hier kann alſo die Religion nur durch den Einfluß einzelner von überlegener Weisheit ſich verbreiten, die nur perſönlich vom Allgemeinen und Unendlichen erfüllt, demnach Propheten, Seher, gottbegeiſterte Menſchen ſind. Die Religion nimmt hier noth- wendig den Charakter einer geoffenbarten Religion an, und iſt darum ſchon in ihrem Fundament hiſtoriſch. Die griechiſche Religion, als poetiſche, durch die Gattung lebende Religion, bedurfte keiner hiſto- riſchen Grundlage, ſo wenig als es die immer offene Natur bedarf. Die Erſcheinungen und Geſtalten der Götter waren hier ewig; dort, im Chriſtenthum, war das Göttliche nur flüchtige Erſcheinung und mußte in dieſer feſtgehalten werden. In Griechenland hatte die Reli- gion keine eigne, von der des Staats unabhängige Geſchichte; im Chriſtenthum gibt es eine Geſchichte der Religion und der Kirche. Von dem Begriff der Offenbarung iſt der des Wunders unzer- trennlich. Wie der griechiſche Sinn nach allen Seiten hin reine, ſchöne Begrenzung forderte, um die ganze Welt für ſich zu einer Welt der Phantaſie zu erheben, ſo der orientaliſche nach allen Seiten hin das Unbegrenzte, das Uebernatürliche, und er fordert auch dieſes in einer gewiſſen Totalität, um von keiner Seite aus ſeinen überſinnlichen Träumen geweckt zu werden. Der Begriff des Wunders iſt in der griechiſchen Mythologie unmöglich, denn die Götter ſind da ſelbſt nicht außer- und übernatürlich, es ſind da nicht zwei Welten, eine ſinnliche und überſinnliche, ſondern Eine Welt. Das Chriſtenthum, welches

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/114>, abgerufen am 27.11.2024.